20070423

Zivilisationskurve, Schamgrenze, Notdurft, zt-33

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Wandlungen in der Einstellung zu den natürlichen Bedürfnissen.
"Notdurft in anderer Leute Gegenwart zu verrichten ist abscheulich."
"Denn immer sind die Engel zugegen".
Einige Bemerkungen zu den Beispielen und zu diesen Wandlungen im allgemeinen.

Die courtoisen Verse sagen nicht viel zu diesem Thema. Die gesellschaftlichen Ge- und Verbote, die diese Bezirke des Lebens umgeben sind relativ gering. Alles ist ungezwungener.

Die Schrift des Erasmus markiert auch hier einen Punkt in der Zivilisationskurve, einen Vorstoß der Schamgrenze, aber auch einen Mangel an Scham. Aber es ist ganz deutlich, dass diese Schrift gerade die Funktion hat, Schamgefühle zu züchten.

Begründungen mit der Allgegenwart von Engeln ist recht charakteristisch. Die Begründung für die Angst, die manfrau im jungen Menschen erweckt, um ihn dem gesellschaftliche Verhaltensstandard gemäß zur Zurückdrängung seiner Lustäußerungen zu zwingen, wechselt im Lauf der Jahrhunderte.

Hier erklärt und substanzialisiert man sich und anderen die Trieb- oder Triebverzichts-Angst als Angst vor äußeren Geistern.

In den breiteren Schichten bleibt der Hinweis auf den Schutzengel als Konditionierungsinstrument der Kinder lange erhalten. Wenn dann die 'hygienischen Gründe' auftauchen spielt der Schutzengel nicht mehr eine so große Rolle.

'Hygienische Gründe' die bei den Erwachsenen-Gedanken (Konditionierung) eine gewichtige Rolle spielen. Was ist rational oder schein-rational?

Die Konditionierungstaktiken werden primär durch das Peinlichkeits- und Schamgefühl der Erwachsenen begründet (S. 182). An die Stelle des Hinweises auf den Respekt, den man Höherstehenden schuldet tritt (z.B. im Jahre 1774) der Hinweis auf gesundheitliche Schädigungen als Konditionierungsinstrument (S. 200).

Erasmus ist mit seiner Schrift der Wegbereiter eines neuen Scham- und Peinlichkeitsstandards, der sich zunächst in der weltlichen Oberschicht langsam heraus zu bilden beginnt. Er schildert mit größter Unbefangenheit, wie zu dieser Zeit die Bedürfnisse vor anderer Augen verrichtet werden.

Gesundheitliche Begründungen finden sich nicht sehr häufig in seiner Schrift. Erst im 19. Jahrhundert dienen sie (gesundheitliche Begründungen) als Instrumente der Konditionierung um Zurückhaltung und Triebverzicht zu erzwingen. Mehr und mehr breitet sich über diese Notwendigkeiten der Bann des Schweigens der früher nicht bestand.

Bei dem spezifischen und dauerndem Zusammenleben vieler sozial abhängiger Menschen am Hof verstärkt sich der Druck von oben zu einer schärferen Regelung des Triebhaushaltes und damit zu einer größeren Zurückhaltung (S. 186).

Eine genauere Triebregelung und Zurückhaltung der Affekte fordern und erzwingen zunächst die sozial Höherstehenden von den sozial Niedrigstehenderen.

Erst verhältnismäßig spät wird die Familie zur alleinigen oder genauer gesagt, zur primären und vorherrschenden Produktionsstätte des Triebverzichts; erst dann wird die gesellschaftliche Abhängigkeit des Kindes von den Eltern zu frühesten und besonders intensiven Kraftquelle (Anmerkung: oder Desaster) der gesellschaftlich notwendigen Affekt-Regulierung und -modellierung. (In der ritterlich-höfischen Phase haben die Höfe selbst diese Funktion).

Im Zuge der späteren wachsenden Arbeitsteilung wird die Verflechtung der Menschen intensiver und alle (höhere und niedere) werden gegenseitig abhängig und selbst die sozial Stärkeren schämen sich (nun auch) vor den sozial Niedrigerstehenden.

Es gibt bei Erasmus (Diversoria) Personen , vor denen man sich schämt und andere vor denen man sich nicht schämt. Das Schamgefühl ist hier deutlich eine gesellschaftliche Funktion und modelliert entsprechend dem gesellschaftlichen Aufbau. Noch im 17. Jahrhundert empfangen Hochstehende Niedere auf dem Klo. Das ist Bevorzugung. Die Freundin Voltaires schämt sich beim Baden nicht vor dem Kammerdiener.

In dieser hierarchisch aufgebauten Gesellschaft bekam jede Aktion im Zusammensein der Menschen den Sinn eines Prestigewertes. Dann, wenn alle gleicher werden, wird es langsam zu einem allgemeinen Verstoß.

Die Gesellschaftsbezogenheit der Scham- und Peinlichkeitsgefühle tritt mehr und mehr aus dem Bewusstsein zurück. Das gesellschaftliche Gebot erscheint dem Erwachsenen als Gebot seines eigenen Inneren und erhält die Form eines mehr oder weniger automatisch wirkenden Selbstzwanges.

Diese Aussonderung der natürlichen Verrichtungen aus dem öffentlichen Leben war nur möglich, weil mit der wachsenden Empfindlichkeit zugleich ein technischer Apparat (Victory!, die Klomuschel im speziellen Kämmerlein :-) entwickelt wurde, der dieses Problem der Ausschaltung solcher Funktionen aus dem gesellschaftlichen Leben und ihre Verlegung hinter dessen Kulissen einigermaßen befriedigend löste.

Es verhielt sich auch damit ähnlich wie mit der Esstechnik. Der Prozess der seelischen Veränderung, das Vorrücken der Schamgrenze und der Peinlichkeitsschwelle ist nicht von einer Seite und ganz gewiss nicht aus der Entwicklung der Technik oder der wissenschaftlichen Entdeckungen zu erklären.

Die Entwicklung einer dem veränderten Standard entsprechenden Apparatur bedeutet eine außergewöhnliche Verfestigung der veränderten Gewohnheiten.

Heute tritt eine gewisse Lockerung ein, die in dieser Form nur möglich ist, weil der Stand der Gewohnheiten, der technisch-institutionell verfestigten Selbstzwänge im großen und ganzen gesichert ist.

Der Standard, der sich in unserer Phase der Zivilisation herausbildet, ist durch eine mächtige Distanz zwischen dem Verhalten der Erwachsenen und der Kinder charakterisiert.

Die Kinder müssen in verhältnismäßig wenig Jahren, den vorgerückten Stand der Scham- und Peinlichkeitsgefühle erreichen, die sich in vielen Jahrhunderten herausgebildet hat (S. 190).

Die Eltern sind oft unzulängliche Instrumente, die primären Exekutoren der Konditionierung, aber durch sie ist es die Gesellschaft als Ganzes, die Druck auf den Heranwachsenden ausübt und ihn sich zurecht formt.

Im Mittelalter war Regelung und Zurückhaltung geringer und so auch ein erheblich geringerer Unterschied im Verhalten der Erwachsenen und der Kinder (S. 191). Das Maß von Triebverhaltung und -regelung das die Erwachsenen voneinander erwarteten war nicht viel größer als das den Kindern auferlegte. Die Distanz zwischen Erwachsenen und Kindern war, gemessen an der heutigen Distanz, gering (S. 192).

Ein Kind, das heutzutage nicht auf den Stand der gesellschaftlich geforderten Affektgestaltung gelangt, gilt in verschiedenen Abstufungen als 'krank, anormal, unmöglich...' und bleibt vom öffentlichen Leben (außer Behinderteneinrichtungen etc.) ausgeschlossen.

Die Psychoanalyse entdeckt die Triebrichtungen in der Form unausgelebter Neigungen, die manfrau als Unterbewusstsein oder Traumschicht bezeichnen kann. Und diese Neigungen haben in unserer Gesellschaft den Charakter eines 'infantilen' Residuums, weil der gesellschaftliche Erwachsenenstandard eine völlige Unterdrückung und Umbildung dieser Triebrichtung erforderlich macht. Beim Auftreten im Erwachsenen erscheint sie als ein 'Überbleibsel' aus der Kinderzeit (S. 193).

Die Gesellschaft beginnt an bestimmten Funktionen die positive Lustkomponente durch die Erzeugung von Angst allmählich immer stärker zu unterdrücken oder, genauer gesagt, zu 'privatisieren', nämlich ins 'Innere' des Einzelnen, in die 'Heimlichkeit' abzudrängen, und die negativ geladenen Affekte, Unlust, Abscheu, Peinlichkeit allein als die gesellschaftsüblichen Empfindungen in der Konditionierung herauszuarbeiten.

Mit dieser gesellschaftlichen Verfemung vieler Triebäußerungen und mit ihrer 'Verdrängung' von der Oberfläche sowohl des gesellschaftlichen Lebens, wie des Bewusstseins wächst notwendigerweise auch die Distanz zwischen dem Seelenaufbau und dem Verhalten der Erwachsenen und dem der Kinder.

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