20070425

Verhalten im Mittelalter, Spucken, zt-35

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Das Spucken bildet ein besonders anschauliches Exempel dafür, wie sich die Zivilisation des Verhaltens produzierte. Im Mittelalter war es nicht nur ein Brauch, sondern offenbar ein allgemeines Bedürfnis, häufig zu spucken. Auch in der ritterlich-höfischen Oberschicht selbstverständlich.

Im 16. Jahrhundert wird der Druck stärker. Erasmus, der eine Übergangszeit markiert, erwähnt die Verwendung eines Tuchs, aber nicht als Notwendigkeit. Spucken wird allmählich peinlicher.

1774 ist der ganze Gebrauch schon erheblich peinlicher. Im 19. Jahrhundert der Spucknapf als technisches Gerät. Dann wird dieses Gerät entbehrlich und das Bedürfnis zu spucken scheint völlig verschwunden zu sein (S. 214).
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Quelle: Norbert Elias: Über den Prozess der Zivilisation, Erstmals veröffentlicht 1936, Francke Verlag: 1969 2. Auflage,Suhrkamp:1976 1. Auflage,19. Auflage 1995 Exzerpt: transitenator. Ab Mai 2007: Erasmus von Rotterdam und sein Lob der Narrheit ('Torheit') auf dem Blog: Ergasmus.
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Das Spuckverbot unterscheidet von anderen Verboten, dass sich hier die Fremdzwänge mehr oder weniger vollkommen in Selbstzwänge verwandelt haben.

Unter dem Druck des 'Über-Ich' schwindet diese Gewohnheit aus dem Bewusstsein. Zurück bleibt im Bewusstsein als Motivation der Furcht irgendeine Überlegung auf längere Sicht, vielleicht ein Bild bestimmter Krankheiten, eine rationale Einsicht.

Aber diese rationale Einsicht war nicht die primäre Ursache der Furcht- und Peinlichkeitsgefühle, nicht der Motor der Zivilisation oder der Antrieb zur Veränderung des Verhaltens (S. 215). Die rationale Einsicht kommt dem Menschen erst in einer späten Phase (19. Jahrhundert), gewissermaßen erst nachträglich.

Jemand, der beim Essen schmatzt weckt gegenwärtig (in den USA und Europa etc.) peinliche Empfindungen.

Die Peinlichkeits- und Ekelgefühle verstärken sich mit den Tabus, bevor manfrau eine Vorstellung von Krankheitskeimen hat.

Was zunächst die Peinlichkeitsgefühle und die Restriktionen auslöst und wachsen macht, ist eine Umformung der menschlichen Beziehungen und Abhängigkeitsverhältnisse. Die Motivierung aus gesellschaftlicher Rücksicht ist lange da vor der Motivierung durch naturwissenschaftliche Einsichten.

Der König verlangt diese Zurückhaltung als Respekt von den Höflingen. Hier, wie in den anderen Zivilisationskurven, verbindet sich die Mahnung: 'So etwas tut manfrau nicht', mit der manfrau Zurückhaltung, Angst, Scham und Peinlichkeit züchtet, erst sehr spät mit einer wissenschaftlichen Theorie, mit einem Begründungszusammenhang, der für alle Menschen gilt.

Aber: Der primäre Antrieb kommt nicht aus der rationalen Einsicht in die Entstehung von Krankheiten, sondern aus den Veränderungen in der Art wie die Menschen miteinander leben, aus den Veränderungen im Aufbau der Gesellschaft.

Spucken ist ein gutes Beispiel für die Formbarkeit des Seelenhaushaltes.

Es erhebt sich die Frage, nach den Grenzen der Transformierbarkeit des Seelenhaushaltes. Ohne Zweifel hat diese Formbarkeit eine bestimmte natürliche Eigengesetzlichkeit. In ihrem Rahmen formt der geschichtliche Prozess, sie gibt Spielraum und setzt Grenzen. Die Bildung von Scham- und Peinlichkeitsgefühlen, das Vorrücken der Peinlichkeitsschwelle, ist beides, natürlich und geschichtlich zugleich.

Jedenfalls ist der Seelenhaushalt der 'Primitiven' nicht weniger als der der 'Zivilisierten' geschichtlich, nämlich gesellschaftlich geprägt.

Es gibt keinen Nullpunkt der Geschichtlichkeit in der Entwicklung der Menschen, wie es auch keinen Nullpunkt der Soziebilität, der gesellschaftlichen Verbundenheit von Menschen gibt (S. 218).

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