20070429

Deutschland Wirtschaftswachstum ohne bürgerliche Anrechte sk-19

Lange Zeit fehlte in Deutschland das was Dahrendorf als das demokratische Minimum bezeichnet hat. Es gab weder effektive Kontrolle durch gewählte Politiker noch die regelmäßige Eingabe der Meinungen und Interessen der vielen.

Menschen suchten andere Ausdrucksmöglichkeiten, zuerst außer parlamentarisch dann antiparlamentarisch. Die Verfassung wurde immer wieder zum Thema der Auseinandersetzungen statt zur selbstverständlichen Grundlage des Handelns.

Die Führung oft unfähig überlegten Wandel hervorzubringen gleicht sich an Beamte an.

Die Regierungsmaschine läuft langsamer. Dann dramatische Veränderungen und idiosynkratische Führer die Bewegung bringen.

Lehren aus der deutschen Erfahrung?
Es geht um die Folgen von wirtschaftlichem Wachstum ohne bürgerliche Anrechte. Thorstein Veblen (Das kaiserliche Deutschland und die industrielle Revolution, 1915) beschrieb dieses Dilemma. Die Quellen seiner Einsicht sind eher intuitiv aber nichtsdestoweniger Einsichten.
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Quelle: Der moderne soziale Konflikt von Ralf Dahrendorf, Stuttgart 1992 (1), München 1994, dtv Taschenbuch, Exzerpt: transitenator
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Laut Veblen verband Deutschland eine fast ungebrochene mittelalterliche institutionelle Ordnung und einen Staat der dynastischen Organisation samt dazugehörigen Werten mit einer sehr raschen übernommenen Industrialisierung.

In Deutschland versuchte die herrschende Klasse mit weithin feudalen Voraussetzungen die Industrialisierung zu ihrer Sache zu machen. Das ist etwas ganz anderes, als wenn eine industrielle Klasse gewisse quasi-feudale Werte annimmt und sie nach ihrem eigenen Bilde um prägt.

Deutschland lieferte das erste wichtige Beispiel der Industrialisierung von oben, der autoritären Industrialisierung. Deren Antriebskraft war der Feudalherr (nicht der auf Bürgerrechten beruhende freie Arbeitsvertrag, nicht der auf dem Markt wirkende innovative Unternehmer) und der Gehorsam seiner Untertanen.

Viele zeitgenössische Diktatoren (Lateinamerika, Asien) ahmen dieses deutsche Modell der Erhaltung einer alten herrschenden Klasse und ihrer Werte durch den Prozess des modernen Wirtschaftswachstums nach.

Aber selbst wo es gelingt, die Wirtschaft anzukurbeln, wird dafür in aller Regel der Preis instabiler politischer Verhältnisse bezahlt. Bismarck wollte ein Wohlfahrtsangebot an die Stelle von Bürgerrechten setzen. Das ist misslungen. Der Bürgerstatus erwies sich als die stärkere Kraft. Durch Wohlfahrtspatriarchalismus ließ sich der Klassenkampf auf Dauer nicht niederhalten.

In furchtbarer Weise war Hitlers Nationalsozialismus nötig, um die Revolution der Modernität für Deutschland zu vollenden. (Für diese These wurde Dahrendorf oft kritisiert doch hält er an ihr fest).

Alle vormodernen Überbleibsel der ständischen und kirchlichen Zugehörigkeit, des autoritären Wohlwollens ohne bürgerliche Teilnahme, der Unbeweglichkeit und des Traditionalismus wurden brutal zerstört von einem Regime, das zur Erhaltung seiner totalitären Macht die totale Mobilmachung brauchte. Die Wirkungen dieses großen Prozesses der Demontage von Tradition wurden nicht sofort sichtbar. Er war unfassbar kurz und schrecklich.

Nach 1945 hatte Deutschland zum ersten Mal die echte Chance der Demokratie.

Vielleicht waren die deutschen Wirtschaftswunder vor 1913 und auch nach 1948 nicht eigentlich Beispiele für kapitalistisches Wachstum. In beiden Fällen waren die Träger des wirtschaftlichen Wachstums mächtige bürokratisierte Organisationen, die Banken, von Anfang an große Unternehmen und der Staat.

Unternehmer und Politiker fehlten auffällig und ebenso fehlte der demokratische Nachschub. Viele Jahrzehnte lang zögerten die Herrschenden in Deutschland dem Volk die Anrechte zu gewähren, die eine moderne Bürgergesellschaft verlangt. Das Risiko des Weberschen Gehäuses der Hörigkeit scheint in Deutschland größer als anderswo. Eine Dosis Klassenkampf hätte nicht geschadet (Dahrendorf, S. 110).
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Frankreich
Hin- und her gerissen zwischen kräftigen Forderungen nach mehr Demokratie und einem alten Hang zur Autorität.
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Schweiz
Gewisse Anonymität der herrschenden Klasse. Stabilität.
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Die Moral dieser Geschichten?:
Freie, offene Gemeinwesen brauchen dreierlei,

die politische Demokratie,

die Marktwirtschaft

und die Bürgergesellschaft.

Drei Säulen der Freiheit.

Dahrendorf meint, dass die Bürgergesellschaft vielleicht den verlässlichsten Anker der Freiheit darstellt, während die Demokratie ihr den sichtbarsten Ausdruck verschafft. Demokratie bleibt ein schillernder Begriff. Manche ziehen es vor von der 'Verfassung der Freiheit' zu sprechen.

Es muss Regeln geben, nach denen die Auseinandersetzungen von streitenden Gruppen und divergierenden Interessen sich vollzieht (Rechtsstaat, Verfassung);
es muss Methoden geben, um die Vorlieben, aber auch die tieferen Bedürfnisse der Regierten in die effektive Kontrolle der Regierenden umzusetzen (das demokratische Minimum);
und es muss Zentren, aber auch Träger der Initiative geben, die bereit sind, neue Lösungen zu erkunden (Führerschaft).

Nichts ist gefährlicher für die Verfassung der Freiheit als das Dogma, und dieses kann durch willkürliche Macht,aber auch durch bürokratische Stagnation entstehen. Das war schon vorher klar.

Was zeigten die Beispiele?

Wie das Nötige getan wird, hängt ganz von spezifischen Bedingungen und Traditionen ab.
Es gibt keinen Königsweg zur Verfassung der Freiheit.


Die Verfassungswirklichkeit muss immer der Geschichte, Kultur und anderen einzigartigen Bedingungen bestimmter Gesellschaften Rechnung tragen. Die wirklich existierende Freiheit ist immer etwas unordentlich.

Hauptsächliche Schlussfolgerung Dahrendorfs ist hier das Lob gut gemischter Verfassungen (S. 112).

Großbritannien Innovative Politik ohne Wirtschaftserfolg sk-18

Als Gegenbild zu den USA England (Anmerkung: Dahrendorf bezeichnet Großbritannien als 'England'). Grundmerkmal ist politischer Konflikt ohne wirtschaftlichen Erfolg. In England kommt es auf die Politik an.

Die britische Verfassung erwies sich als erstaunlich widerstandsfähig in Zeiten, in denen die wirtschaftlichen Verhältnisse des Landes relativ schlecht und zuweilen miserabel waren, also Kontrast von politischer Stabilität und relativem wirtschaftlichen Niedergang.

Die ökonomische Theorie (von Schumpeter bis Arrow) beschreibt nicht die britische Politik zwischen dem späten 19. Jahrhundert und den 1970er Jahren.

Die ökonomische Theorie (von Schumpeter bis Arrow) beschreibt politische Parteien die sich in Wahlkämpfen einander mit Versprechen überbieten, dann aber in Schwierigkeiten geraten, wenn sie ihre Versprechen (nicht einlösen können.
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Anmerkung von Willem: Evolution of a Promise: Versprechen --> Versprechungen? --> Versprecher? bzw. Verbrecher? (da ja Wählerbetrug ähnlich Heiratsschwindelei z.B.).
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Die britische Politik war lange Zeit eine Politik der Anrechte (nach Dahrendorf verlangt dieses Thema Nullsummenspiele, bei denen die Gewinne der einen mit den Verlusten der anderen bezahlt werden müssen), nicht des Angebots (die Politik des Wachstums gerät in große Schwierigkeiten wenn sie nicht mehr positive Summen hervorbringt).

Themen britischer Politik waren Bürgerschaft und Privilegien, nicht Wirtschaftswachstum. Diese Züge der britischen Politik haben tiefere Wurzeln. Sie spiegeln eine im Kern statische sozialökonomische Gestalt der Gesellschaft.

In Großbritannien hatten sich viele Menschen mit ihren 'Klassen' abgefunden, als seien sie vorindustrielle Stände, ja Kasten. Zugleich Klage aber auch Stolz auf die Klasse. Arbeiterklasse mit einer ausgeprägten eigenen Kultur.

Die Geschichte der Klassen in Großbritannien als eine Verteidigung von und Forderung nach Anrechten, für die der wirtschaftliche Erfolg nie als angemessene Kompensation betrachtet wurde (S. 105). Also fast ständische Struktur. Niedergang des industriellen Geistes (Marin Wiener). Überdrüssigkeit der Revolution.
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Quelle: Der moderne soziale Konflikt von Ralf Dahrendorf, Stuttgart 1992 (1), München 1994, dtv Taschenbuch, Exzerpt: transitenator
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Sowohl Unternehmer als auch Arbeiterseite nicht begierig auf die unbegrenzten Möglichkeiten des wirtschaftlichen Fortschritts. Es gab das Zweiparteiensystem als Spiel, als eine Art Theateraufführung der sozialen Spaltung in oben und unten, mit Anrechtsveränderungen als Hauptthema.

Unter Thatcher verlagerte sich das öffentliche Interesse weg von Anrechten und hin zu der Auffassung, dass ein wachsendes Angebot alle Probleme lösen wird, und das Land spaltete sich in Erfolgreiche und Erfolglose.

In a nutshell (kurze Zusammenfassung):
U.S.A.: Verbindung von Bürgerrechten und Wirtschaftswachstum.
England: Innovative Politik und wirtschaftliche Schwäche.
Beide erkannten sowohl das Prinzip der Bürgerrechte als auch die Notwendigkeit des Wandels an. Die Mischungen funktionierten.
Das tat die deutsche Mischung nicht. Dazu mehr im nächsten Post sk-19

U.S.A.- Soziale Voraussetzungen politischer Demokratie, sk-17

Dahrendorf meint, dass die amerikanische Verfassung Weber gefallen hätte. Präsidentschaft ist hier reine Führung, der Kongress reine Demokratie, Rolle der Bürokratie dadurch verringert, dass es einer neuen Administration erlaubt wird alle Schlüsselpositionen mit eigenen Leuten zu besetzen. Das System der USA gibt nach Dahrendorf allem Anschein nach eine plausible Antwort auf die Frage der modernen Politik.

Mobilität ist Amerikas Grundmerkmal. (Dahrendorf spricht von den 'U.S.A.' als 'Amerika'). Mobilität war von Anfang an mit der Demokratie im Sinne von Tocqueville verknüpft, das heißt mit einer Grundgleichheit der Lebensbedingungen, in der es an traditionellen Abhängigkeitsverhältnissen auffällig fehlte.

Manche behaupteten, dass durch die Klassenlosigkeit der amerikanischen politischen Ideologie, die Parteizugehörigkeit in Amerika weniger als in anderen Ländern auf Klassenspaltung beruhe. Aber dieser Schluss wurde widerlegt.

Nach S. M. Lipset sind politische Konflikte in Amerika bereits viel früher dem Klassenmodell gefolgt. (Anmerkung: 'Klasse' ist für Dahrendorf ein 'Fixum').

Schon Tocqueville: "Je tiefer wir in die innersten Überlegungen dieser Parteien eindringen, desto deutlicher merken wir, dass das Ziel der einen in der Begrenzung und das der anderen in der Ausweitung der Macht des Volkes liegt".
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Quelle: 'Der moderne soziale Konflikt' von Ralf Dahrendorf, Stuttgart 1992 (1), München 1994, dtv Taschenbuch, Exzerpt: transitenator
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Sind die USA ein Musterbeispiel?

Lipset behauptete in den 60 er Jahren als Urheber einer der damals vorherrschenden Theorien, dass die Demokratie vom Stand der Wirtschaftsentwicklung abhängt. "Je wohlhabender eine Nation ist, desto größer sind die Chancen, dass Demokratie in ihr Halt findet".

Dahrendorf meint es wäre nicht absurd eine Gegenthese aufzustellen: Demokratie erlaubt es Ländern, wirtschaftliche Nullsummenspiele in Freiheit zu spielen. Aber Dahrendorf ist der Anschauung, dass das amerikanische Beispiel eine ganz andere Geschichte der sozialen Voraussetzungen von politischer Demokratie erzählt.

Es ist die Verbindung der Bürgerrechte mit der offenen Grenze (siehe unten). Die Bürgerrechte sind dem nahe was Tocqueville als Grundbedingungen der Gleichheit und Demokratie bezeichnet hat. Sie sind im amerikanischen Fall Zugehörigkeitsrechte, die im wesentlichen auf die rechtliche und politische Sphäre beschränkt bleiben.

Die amerikanische Geschichte beschreibe die große Virulenz dieser großen Kraft der Moderne. Amerikanische Geschichte: 1770 Verfassungskämpfe, 1860 Bürgerkrieg, 1960 Bürgerrechtsbewegung sind herausragende Ereignisse in einer langen Geschichte des Kampfes um die Durchsetzung des Bürgerstatus, auf dem nie endenden Weg zur Durchsetzung der Bürgerrechte für alle.

Es bleibt das Zögern der Amerikaner festzuhalten, wenn es um die Ausweitung solcher Anrechte in die soziale Sphäre geht. Amerikaner mögen den Gedanken von sozialen Anrechten nicht. Dahinter steckt die Annahme, dass Selbstverantwortung und Selbständigkeit sich ohne Rekurs auf soziale Bürgerrechte erreichen lassen.

Menschen haben also nicht einfach ein Anrecht auf soziale Leistungen, sondern treten in eine Art Vertragsbeziehung (eher Privatvertrag als Gesellschaftsvertrag). Menschen bekommen Hilfe in der Annahme, dass sie bereit sind, ihren eigenen Beitrag zu leisten (also im Kern für sich selbst zu sorgen).

In Amerika Bürgerrechte als Eintrittskarte zum wirtschaftlichen, sozialen und politischen Leben. Dann Kampf aller gegen alle, 'rat race'. Sozialdarwinismus spielt in Amerika nicht nur die Rolle einer Philosophie.

Das restriktive Verständnis des Bürgerstatus funktioniert, weil es Chancen des individuellen Vorankommens gibt. Offene Grenze mit dem Namen 'Wirtschaftswachstum'.

Solange die Möglichkeit besteht, ein größeres Angebot ('Wirtschaftswachstum') zu produzieren, gibt es auch - auf der Grundlage der Eintrittskarte der Bürgerrechte und des Fehlens von förmlichen Anrechtsschranken - die Chance, dass einzelne mehr verdienen und ihre Lebenswünsche verwirklichen.

Es gibt ein amerikanisches Gleichgewicht von elementaren Bürgerrechten und einem unbegrenzt scheinenden Angebot.

Dieses Gleichgewicht als das Geheimnis der politischen Demokratie in Amerika.

20070428

Max Weber, Politik, Ohnmacht, Bürokratie, sk-16

Politikverdrossenheit?-Die da oben machen was sie wollen?-Europa?-EU-Verfassung?
Auf diesem Blog habe ich bisher hauptsächlich Inhalte von Norbert Elias und Ralph Dahrendorf präsentiert. Mit gutem Grund.

Jeder und jede derdie Wandlungen, Übergänge, Veränderungen, Entwicklungen und Fort-, Vor- und Rückschritte europäischer und internationaler Politik verfolgt kann ein sehen, dass das Demokratie-Thema, bzw. weitere Demokratisierung international höchste Priorität hat.

Da sind Gleichlagen von politischen Parteien, wie z.B. in den U.S.A., Mexiko und sämtlichen europäischen Staaten. Bürger in Europa finden sich von der politischen Führung und Vertretung abgekoppelt.

Die wirklich wichtigen Gespräche finden nach den Wahlen unter Öffentlichkeitsausschluß hinter verschlossenen Türen statt. Was wird da ausgehandelt? Warum kann das nicht öffentlich sein?

Verschiedene bestimmte Formen ökonomischen Denkens stehen ständig im Vordergrund und werden gebetsmühlenartig wiederholt bzw. wehen ständig aus den Fernsehern als medial aufbereitete Gebetsfahnen mit Angstsendeimpulsen. Ängste um Arbeitsplatz, Ängste um Unternehmens-, Firmen-, Industrie-, Wirtschafts- WACHSTUM werden ständig geschürt.

Gleichzeitig wird weiter säkularisiert, religiöse Werte und Personen diskreditiert, ungeprüfte ideologische Vorstellungen als himmlische Lösungen präsentiert und die Bürger und die zukünftigen Generationen sollen das aus baden?
Wir sollen glauben, dass wir von Affen abstammen und dereinst den Weltraum erobern werden. Evolution ist Religion. Anomie die Vorschrift.

Die Tendenzen in den U.S.A. und in Europa gehen in Richtung Totalisierung durch herrschende Bürokratien die in ihrer ökonomischen Argumentation und Denkweise Bündnisse mit zum Beispiel Großkonzernen eingehen, bzw. von diesen schon vor sich her getrieben werden. Politik in den U.S.A. und in Europa wird zunehmend reaktiv.

Fragen der Korruption und Bestechung sind hier noch gar nicht an geschnitten worden.

Das Thema Demokratie bleibt also auch 'für den Westen' eine ständige Frage, Herausforderung und Aufgabe!
Ja und in Afrika, Nahem und Fernen Osten und in ... ... ... ...?

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Weiter im Stoff:

Die Erfahrung des kaiserlichen Deutschland bestimmte Max Weber's Definition des Problems der modernen Politik. Hintergrund: Bismarck.

Weber war geradezu besessen von der Rolle der Bürokratie (Beamtenherrschaft) und dem mit ihr verbundenen allgemeinen 'Willen zur Ohnmacht'. Das Bild der Bürokratie als einem 'Gehäuse der Hörigkeit' für künftige Generationen.

Menschen werden bloße Rädchen einer 'lebenden Maschine', abhängig und ohnmächtig zugleich.

Weber fragt: Wie ist es angesichts dieser Übermacht der Tendenz zur Bürokratisierung überhaupt noch möglich, irgendwelche 'individualistische Bewegungsfreiheit' zu retten? (Weber sucht also keine literarische oder philosophische Antwort. Sein Interesse gilt der Politik und politischen Institutionen).

Weber übersetzt die Frage in zwei genauere. Dahrendorf beschreibt sie als Fragen der Demokratie und Fragen der Führung.

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Quelle bzw. Literaturhinweis: Der moderne soziale Konflikt von Ralf Dahrendorf, Stuttgart 1992 (1), München 1994, dtv Taschenbuch. Exzerpt und Kommentar: transitenator
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Die Frage der Demokratie.
Weber fragt wie "irgendwelche Gewähr dafür geboten werden (kann), dass Mächte vorhanden sind, welche die ungeheure Übermacht dieser an Bedeutung stets wachsenden Schicht in Schranken halten und sie wirksam kontrollieren": "Wie wird Demokratie auch nur in diesem beschränkten Sinn überhaupt möglich sein?"

Was bedeutet Demokratie?

Es geht bei ihr darum, die Interessen und Meinungen der vielen in den politischen Prozess einzubringen und es geht um Legitimität. (Der allgemeine Wille hatte zunächst Verwirrung gestiftet als Rousseau, Kant und Hegel ihn auf dreierlei unterschiedliche Weise interpretierten).

Weber zeigt, dass das oben beschriebene Modell (Klassen und Eliten) zu einfach ist. Die bürokratische Gefahr ist ernst. Sie wirkt lähmend, z.B. auf das Parlament, auf die Vermittler von Volk (demos) und Herrschaft (kratia).

Dann wird das Parlament zur Schwatzbude.

Eine derartige Bürokratisierung des Parlaments droht immer und überall.

Sie schreckt die Außen stehenden, 'das Volk', ab von den politischen Institutionen und führt zur Bildung von neuen sozialen Bewegungen sie sich bald mit ähnlichen Problemen konfrontiert finden.

Zwei Prozesse bilden das, was man das demokratische Minimum nennen kann. Der eine besteht in der Eingabe der Meinungen und Interessen des Volkes in das politische System, der andere in der Kontrolle der Herrschenden und ihrer Verwaltung.

Wenn entweder der demokratische Nachschub oder die demokratische Kontrolle blockiert werden, folgt eine Verfassungskrise. Das demokratische Minimum (nicht als schöne Idee oder Traum) ist vielmehr die sicherste Methode, um dafür zu sorgen,dass Wandel ohne Revolution stattfinden kann. In diesem Sinne ist die Demokratie schlicht effizienter als andere Regierungsformen.

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(Anmerkung zur 'Effizienz': Diese nur bei geltenden Bürgerrechten gewährleistet (Bürgergesellschaft). Oder warum bevorzugen in weniger wirtschaftlich entwickelten Ländern autoritäre Führer die Nicht-Demokratie? Sie können über Leichen gehen, damit wenige Akteure Profite machen.

Hier kommt die Anrechtsfrage herein. Wenn Menschen keine Anrechte oder nur wenige Anrechte haben, dann ist die Demokratie als Herrschaftsform für die Herrschenden in diesen Ländern eine leere Formel. Sie sind dann keine 'Citoyens' sondern haben nur Existenz als puppenartige Masse mit Anspruch auf Armut und Elend.

Bedauerlicherweise wird auch gesagt, dass ein Volk bzw. ein Land die Führer bekommt, die es verdient. Das ist ein versteckter Aufruf zu Terror, Gewalt und Revolution bzw. eine kurze Anleitung zum eigenmächtigen Handeln der beherrschten Menschen.

Was die U.S.A. derzeit in Afghanistan und im Irak treiben ist bekannt aus dem Vietnam Krieg und aus Jahrhunderten europäischen Kolonialismus's. Und das Ergebnis solcher Eskapaden ist sicherlich auch schon klar (April 2007).

Psychologen kennen den Begriff 'rezessiv', was soviel bedeutet wie rückfällig, das Zurückrutschen in ein früheres Stadium. Auf Englisch: 'Backsliding'- ein Begriff aus der amerikanischen Christen-Szene. Kanonenbootdiplomatie, ja, die Zeit scheint mit dem wirtschaftlichen Fortschritt politisch, aber auch sittlich rückwärts zu gehen).

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Max Weber: "Die modernen Parlamente sind in erster Linie Vertretungen der durch die Mittel der Bürokratie Beherrschten".

Die Kontrolle der Herrschaft verlangt neben parlamentarischen Verfahren auch rechtliche und andere Mechanismen zur Überprüfung von Entscheidungen einschließlich von Verwaltungsakten.

Vieles, soziale Bewegungen, Sonderinteressengruppen auch die Medien gehören zur Bürgergesellschaft. Demokratie ist ihrer Definition nach unordentlich.

Max Webers Hauptinteresse galt nicht der Demokratie sondern dem was die Bürokratie nicht leistet, der zweiten nun folgenden institutionellen Frage.

Die Frage der Führerschaft
Ein Lieblingsthema von Weber. Das ist die Frage der Innovation, der Initiative, der Bereitschaft und Fähigkeit, Dinge zu tun. (Schumpeter lobte die Rolle des Unternehmers in der Frage der Wirtschaftsentwicklung und seine Tugenden und Talente).

Weber beantwortet diese Frage für die öffentlichen Dinge durch die Sozialgestalt des 'Politikers', des Menschen mit Politik als Beruf.

Es geht bei Dahrendorf nicht um Webers obskurem 'Charisma', also durch Legitimation der Herrschaft durch außergewöhnliche Ansprüche, sondern um die Analyse Webers, dass Bürokratie zwar dominieren, aber nicht führen kann.

Die Bürokratie ist (Anmerkung: NUR) ihrer Definition nach kopflos. An der Spitze stehen bürokratische Charaktere. Es entstehen steuerlose, mittelmäßige Gemeinwesen, die allenfalls verwaltet, aber nicht regiert werden. Bürokraten sollen loyal ausführen. Sie empfangen ihre Richtung von den Führern.

Weber malt das Gemälde der Eigenschaften und Talente von Führern, beschreibt drei Qualitäten die Politiker haben müssen: Leidenschaft (Hingabe an die Sache), Verantwortungsgefühl (Verantwortungsethik) und Augenmaß).

Dahrendorf gebraucht eine Metapher aus der Raumfahrt, nämlich die des richtigen Eintrittswinkels: Führende Politiker die im Kontrollstand bürokratischer Imperien stehen müssen zwei Risiken vermeiden. In die Sphäre des Handelns nämlich entweder mit einem zu steilen Winkel einzutauchen und dabei zu verglühen oder durch einen zu flachen Winkel von dieser Sphäre zurückgestoßen zu werden. Der Winkel muss also stimmen, damit Führer effektiv werden und ihre Integrität bewahren können.

Weber fragte sozusagen: Unter welchen Verfassungsbedingungen ist ein Resultat des Eindringens in diese Sphäre möglich? (Weber unterstützte die Möglichkeit der Direktwahl des Reichspräsidenten und des Regierens mit Notverordnungen, dann Weimarer Verfassung, Hindenburg, 1933, folgenschwer).

Dahrendorf meint, das Fehlen eines wirklichen Präsidialsystems wie in den U.S.A. oder in einer parlamentarischer Demokratie (GB) wäre der größere Mangel gewesen.

Alle Antworten auf das Problem der modernen Demokratie sind kontrovers und verschwinden nicht von der Tagesordnung: Wie lassen Demokratie und Innovation sich angesichts der wachsenden bürokratischen Gefahr sich verbinden?

Wie bleibt Wandel ohne Revolution (Krieg) möglich?

Dahrendorf: Die Verfassung der Freiheit muss auf diese Fragen eine Antwort geben.

Eliten, Klassen, sozialer Wandel, Politik, sk-15

Die Beziehung zwischen Klassentheorie und Elitetheorie. (Dahrendorf: "ist 'ne peinliche Frage").

Absolute Ansprüche werden erhoben mit wenig Licht auf die wirklichen Prozesse des Wandels. Klassen bestimmen wahrscheinlich die Energie und die Richtung des sozialen Wandels. Sie sind unübersehbar und der Inhalt der Interessen, um die sie sich bilden, weist auf die Richtung wohin sich die Dinge bewegen. Aber jemand muss diese Interessen in Handeln übersetzen und die Dinge vorantreiben.

Es gibt viele Untersuchen über die Begrenzungen von Eliten. Sie werden beschrieben: aus engem sozialen Bereich, mit ähnlichen Lebensläufen, Lebenserfahrungen, haben akademische Abschlüsse, sprechen eine gemeinsame Sprache.
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Quelle: 'Der moderne soziale Konflikt' von Ralf Dahrendorf, Stuttgart 1992 (1), München 1994, dtv Taschenbuch, Exzerpt: transitenator
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Dahrendorf kritisiert, dass solche Studien den Kern des politischen Prozesses verfehlen. Mitglieder von sozial homogenen Eliten sind vielmehr unter bestimmten Umständen durchaus in der Lage unorthodoxe radikale Entscheidungen zu machen. Oft haben eher die Aufsteiger eine Angst anders zu sein und handeln daher stärker konform.

Je selbstbewusster Menschen in ihrer Zugehörigkeit sind, desto weniger defensiv verhalten sie sich, desto offener können sie daher bleiben für die Interessen und Impulse sozialer Kräfte. So könnten möglicherweise homogene Eliten wirksamere Träger des Wandels sein als pluralistische Eliten. Nervöse Eliten sind in aller Regel feige; der Mut zur Reform setzt Selbstbewusstsein voraus.

Politik in der industriellen Gesellschaft hat in ihrem Kern mit der effektiven Vermittlung dieser verschiedenen Elemente (Klassen, Eliten) zu tun. Parlamente haben hier ihre Aufgabe und versammeln organisierte soziale Kräfte, wählen Führer und geben ihnen Chancen des Handelns und zwingen aber auch zum Zuhören. Dieses Wechselspiel wird durch zusätzliche Faktoren gestört. Im nächsten Beitrag (Post) hilft uns Max Weber weiter.

Ritter, Mittelalter, Herrenbewusstsein, zt-40

Die Frage, warum sich Verhalten und Affektlage der Menschen ändern, ist im Grunde die gleiche, wie die, weshalb sich die Lebensformen der Menschen ändern.

Die Ritterfunktion, diese Lebensform, war von einer bestimmten Zeit ab im Gefüge der Gesellschaft nicht mehr vorhanden. Andere Funktionen wie die des Zunfthandwerkers oder des Priesters, die in der mittelalterlichen Phase eine Rolle spielte, verloren an Bedeutung im Gesamtgefüge der gesellschaftlichen Beziehungen.

Warum verändern sich die Funktionen, die Lebensformen, in die sich der Einzelne, wie in mehr oder weniger fest modellierte Gehäuse, ein passen muss, im Lauf der Geschichte?`
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Quelle: Norbert Elias: Über den Prozess der Zivilisation, Erstmals veröffentlicht 1936, Francke Verlag: 1969 2. Auflage,Suhrkamp:1976 1. Auflage,19. Auflage 1995 Exzerpt: transitenator.
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Wie lebten die Ritter? Welcher Lebensraum öffnete sich dem adlig Geborenen? Elias schildert nun Bilder aus dieser Zeit. Es ist vor allem die Art der Darstellung die Unterschiede der Gefühlslagen unterstreicht.

Wenig ist hinter die Kulissen verlegt. Das Peinlichkeitsempfinden der mittelalterlichen Oberschicht verlangt noch nicht, dass alles Vulgäre hinter die Kulissen des Lebens und damit auch der Bilder verdrängt wird.

Es befriedigt die Affekte der oberen sich von den anderen unterschieden zu wissen. Der Anblick des Kontrastes erhöht die Lust am Leben.

Es ist nicht peinlich, dass die Edlen Muße haben und andere für sie arbeiten.

Es fehlt die Identifizierung von Mensch zu Mensch.

Ein 'alle Menschen sind gleich' gibt es noch nicht am Horizont dieses Lebens.

Herrenbewusstsein und selbstsichere Verachtung der anderen. Die oberste Schicht ist eine Kriegerschicht. Erst später wird die Oberschicht auch von den anderen Schichten abhängig.

Die Bilder aus dem Mittelalter die Elias betrachtet sind noch nicht 'sentimentalisch', weil aus ihnen noch nicht jene starke Gebundenheit der Affekte spricht, die von nun an während einer langen Phase in der künstlerischen Darstellung für Oberschichten immer ausschließlicher deren Wunschbilder zutage treten ließ, und die zur Unterdrückung alles dessen zwang, was dem vorrückenden Peinlichkeitsstandard widersprach (S. 293).

Im Mittelalter ist die Welt um den Ritter zentriert. Die erotische Beziehung zwischen Mann und Frau ist sehr viel unverdeckter als in der späteren Phase. Die Nacktheit ist noch nicht mit Schamgefühlen belegt.

Aber die Menschen sind keineswegs in irgendeinem absoluten Sinn ungebunden und gesellschaftlich unmodelliert. Es gibt in dieser Hinsicht keinen Nullpunkt.

Schon im 15. Jahrhundert bildet sich aus aufsteigenden Elementen eine neue Aristokratie mit einem neuen Lebensraum, neuen Funktionen und mit einer anderen Affektmodellierung.
Ein neuer Zwang, eine neue, eingehendere Regulierung und Modellierung des Verhaltens, wie sie das alte ritterliche Leben weder nötig, noch möglich machte, wird jetzt von dem Edelmann verlangt.

Das sind Konsequenzen der neuen stärkeren Abhängigkeit, in die der Edelmann jetzt geraten ist. Er ist nicht mehr der relativ freie Mann, der Herr in seiner Burg ist, und dessen Burg seine Heimat ist. Er lebt jetzt am Hof und dient dem Fürsten.

Am Hof lebt er mit vielen anderen zusammen. Er muss lernen, seine Gesten dem verschiedenen Rang und Ansehen der Person am Hofe entsprechend genau zu dosieren, seine Sprache genau ab zumessen und selbst seinen Blick genau zu kontrollieren.

Es ist eine neue Selbstdisziplin, ein unvergleichlich viel stärkeres An-sich-halten, die dem Menschen durch diesen neuen Lebensraum und die neue Integrationsform aufgezwungen werden (S. 300).

Was als 'courtoisie' ausgedrückt wurde, findet nun als 'civilité' ihren Ausdruck. In Frankreich wird Heinrich IV. zum Vollstrecker dieser Wandlung.

20070427

Kampf, Konflikt, Angst, Lust, Zivilisation zt-39

Wandlungen der Angriffslust.- Das Affektgefüge des Menschen ist ein Ganzes auch wenn wir einzelne Triebäußerungen unterscheiden. Diese ergänzen und ersetzen sich, bilden eine Art von Stromkreis im Menschen.

Triebäußerungen sind voneinander wenig trennbar und bilden eine Teilganzheit innerhalb der Ganzheit des Organismus und sind gesellschaftlich geprägt.

Es wird zwar gerne von einzelnen 'Trieben' gesprochen aber die Denkformen die nicht die Zugehörigkeit und die Einheit und Ganzheit des Triebhaushalts sehen bleiben dieser Ganzheit gegenüber ohnmächtig. Jede besondere Triebrichtung gehört zu dieser Ganzheit.

Wenn im folgenden von einem 'Angriffstrieb' gesprochen wird, so nur als eine Triebfunktion im Ganzen eines Organismus, und Wandlungen dieser Funktion zeigen Wandlungen der gesamten Modellierung an.

Der Standard der Kampfeslust ist gegenwärtig durch eine Unzahl von Regeln und Verboten, die zu Selbstzwängen geworden sind, eingeengt und gebändigt. Auch hier die gleiche geschichtliche Verwandlung.

Die Entladung der Affekte im Kampf war vielleicht im Mittelalter nicht mehr ganz so ungedämpft wie in der Frühzeit der Völkerwanderung (S. 265).
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Quelle: Norbert Elias: Über den Prozess der Zivilisation, Erstmals veröffentlicht 1936, Francke Verlag: 1969 2. Auflage,Suhrkamp:1976 1. Auflage,19. Auflage 1995 Exzerpt: transitenator.
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In der mittelalterlichen Gesellschaft gehören Raub, Kampf, Jagd zu den Lebensnotwendigkeiten und treten offen zutage.
Für die Mächtigen und Starken gehört es zu den Freuden des Lebens. Gefangene werden verstümmelt, Brunnen verschüttet, Bäume abgehauen, Felder verwüstet. Das Geld hatte in der Ritterzeit eine dämpfende Wirkung. Ritter wurden ausgelöst, die Armen verstümmelt.

Es gab keine strafende, gesellschaftliche Gewalt. Die einzige Bedrohung war die von einem Stärkeren überwältigt zu werden.

Im 13. Jahrhundert gehört Rauben, Plündern, Morden zum Standard der Kriegergesellschaft. Die Grausamkeitsentladung schloss nicht vom gesellschaftlichen Verkehr aus. Sie war nicht gesellschaftlich verfemt.

Die Freude am Quälen und Töten anderer war groß, und es war eine gesellschaftlich erlaubte Freude. Manfrau verhielt sich gesellschaftlich zweckmäßig und fand seine Lust dabei. (Unverstümmelte Gefangene bedeuten eine Bedrohung). Die Zukunft war fast immer ungewiss. Der Augenblick galt dreifach.

Das Gros der weltlichen Oberschicht des Mittelalters führte das Leben von Bandenführern. Der Krieger des Mittelalters liebte den Kampf nicht nur, er lebte darin, sein Leben hatte keine andere Funktion.

Im 15. Jahrhundert gibt der Ritter noch seiner Freude am Kampf Ausdruck, also Kriegslust die die Furcht besiegt, und Freude an der Verbundenheit mit dem Freund.
Beim Bauern war der Spielraum der Angriffslust beschränkt auf seinesgleichen.
Der Ritter war außerhalb seiner Schicht weniger beschränkt als innerhalb (ritterlicher Code).

Für die geistliche Oberschicht des Mittelalters ist das Leben in seiner Gestaltung durch den Gedanken an den Tod und an das was nachher kam, an das Jenseits bestimmt.

In der weltlichen Oberschicht ist das keineswegs mit solcher Ausschließlichkeit der Fall (S. 271).
"Kein courtoiser Mann soll die Freude schelten, er soll Freude lieben" (13. Jahrhundert).
Das sind deutliche Abhebungen des ritterlichen Menschen gegen den Kleriker.

Den Tod nicht zu fürchten, war eine Lebensnotwendigkeit für den Ritter.

Auch das Leben der Bürger in den Städten war, von Fehden durchsetzt, auch hier Angriffslust, Hass und Freude an der Qual anderer, ungebändigter als in der folgenden Phase.

Es war nicht allein die Waffe des Geldes, die den Bürger hoch trug.

Raub, Kampf, Plünderung, Familienfehde, das alles spielte im Leben der Stadtbevölkerung kaum eine geringere Rolle als im Leben der Kriegerkaste.

Wettstreite gegenseitiger Beschuldigungen, wilde Schlachten bei Rittern und Kaufleuten und Handwerkern. Familienfehden. Auch die Bürger, die kleinen Leute, Mützenmacher, Schneider, Hirten, sie alle hatten schnell das Messer in der Hand.

Ausbrüche von Freude und Lustigkeit, aber auch plötzliches Aufflackern von Hass und Angriffslust.

Das sind Symptome des emotionalen Lebens. Die Triebe, die Emotionen spielten ungebundener, unvermittelter, unverhüllter als später.

Die Religion wirkt für sich allein niemals zivilisierend oder Affekt dämpfend. -o- (Anmerkung: Ein überaus interessantes Thema: Religion <---> Zivilisation. Nachdem ich hier auf diesem Blog eine gewisse Basis eingerichtet habe, wird hier etwas mehr Lebendigkeit einkehren. Während des Schreibens für diverse Blogs habe ich auch einen Haufen Daten gesammelt die ich bis zum Herbst bzw. hoffentlich Winteranfang 2007 ausgewertet habe. Und dann gibt's sozusagen neuen Wein! Hoit nur a kloans Glaserl oba wems schmeckt...).-o-

Umgekehrt: Die Religion ist jeweils genau so zivilisiert, wie die Gesellschaft oder wie die Schicht die sie trägt (S. 277).

Das Leben in dieser Zeit, war von einer anderen Affektgeladenheit als unsere. Wer in dieser Gesellschaft nicht aus voller Kraft liebte oder hasste, der mochte ins Kloster gehen, im weltlichen Leben war er ebenso verloren, wie derjenige der in späterer Zeit seine Leidenschaften nicht zu zügeln vermochte.

Hier wie dort ist es der Aufbau der Gesellschaft, der einen bestimmten Standard der Affektbewältigung verlangt und züchtet.
Damals war das Land in Provinzen zerfallen und die Einwohner jeder Provinz bildeten gewissermaßen eine kleine Nation für sich, die alle anderen verabscheute. Es gab eine beständige Rivalität.

Der Zusammenhang von Gesellschaftsaufbau und Affektaufbau: Es gibt hier keine Zentralgewalt, die mächtig genug ist, um Menschen zur Zurückhaltung zu zwingen.
Wenn eine Zentralgewalt wächst, dann ändert sich auch allmählich die Affektmodellierung und der Standard des Triebhaushalts.
Dann schreitet die Rücksicht der Menschen aufeinander im normalen gesellschaftlichen Leben fort. Und die Affektentladung wird auf bestimmte zeitliche und räumliche Enklaven beschränkt.

Heute bedarf es einer gewaltigen sozialen Unruhe und Not, es bedarf vor allem einer bewusst gelenkten Propaganda, um die aus dem zivilisierten Alltag zurückgedrängten, die gesellschaftlich verfemten Triebäußerungen wieder aus ihrer Verdeckung zu wecken und zu legitimieren (S. 279).
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Quelle: Norbert Elias: Über den Prozess der Zivilisation, Erstmals veröffentlicht 1936, Francke Verlag: 1969 2. Auflage,Suhrkamp:1976 1. Auflage,19. Auflage 1995 Exzerpt: transitenator.
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Diese Affekte haben in verfeinerter Form ihren legitimen Platz in der zivilisierten Gesellschaft.
Die Kampf- und Angriffslust findet z.B. einen gesellschaftlich erlaubten Ausdruck im sportlichen Wettkampf.

Und sie äußert sich vor allem im 'Zusehen', etwa im Zusehen von Sportkämpfen, in der tagtraumartigen Identifizierung zur Entladung solcher Affekte. -o- (Anmerkung: 2007: Wirkung von Konsum, Angebot und Nachfrage, Fernsehen, Radio, Musik, MP3 Player, Bands, etc. Weiters heute auch Reizüberflutung in den wohlhabenden Regionen der Erde, Diskrepanz Reichtum-Armut, imperialistische Macht-Interessen, Neo-Kolonialismus, ja es wird viel auf der Affekt-Klaviatur gespielt).-o-
Und dieses Ausleben von Affekten im Zusehen, oder selbst im bloßen Hören ist ein besonders charakteristischer Zug der zivilisierten Gesellschaft.

Was ursprünglich als aggressive Lustäußerung auftritt wird verwandelt in die passivere, gesittetere Lust am Zusehen, eine bloße Augenlust, 'wird bloß mit dem Auge berührt'(S. 280).
Das Auge wird zum Vermittler von Lust, weil die unmittelbareren Befriedigungen des Lustvorganges in der zivilisierten Gesellschaft durch eine Unzahl von Verboten und Schranken eingeengt sind.
Die unmittelbaren Triebäußerungen (Aktionen) werden ins Zusehen verlegt. Aber auch der Boxkampf ist eine gemäßigte Form verwandelter Angriffs- und Grausamkeitsneigungen.

Der Affekthaushalt verwandelte sich in der Geschichte. Vieles von dem, was ehemals Lust erregte, erregt heute Unlust.
Hier wie dort, sind die Vergnügungen, die die Gesellschaft sich verschafft, Inkarnationen eines gesellschaftlichen Affektstandards, in dessen Rahmen sich alle individuellen Affektmodellierungen halten.
Wer aus dem Rahmen tritt gilt als anormal.

Auch hier der psychische Mechanismus, auf Grund dessen sich die geschichtliche Transformation des Affektlebens vollzieht: Gesellschaftlich unerwünschte Trieb- und Lustäußerungen werden mit Maßnahmen bedroht und bestraft, die Unlust erzeugen oder dominant werden lassen.

Und so kämpft die gesellschaftlich erweckte Unlust und Angst mit einer verdeckten Lust.

Frage: Welche Veränderung des gesellschaftlichen Aufbaus löste eigentlich diese psychischen Mechanismen aus. Welche Veränderung der Fremdzwänge setzte diese Zivilisation der Affektäußerungen und des Verhaltens in Gange? (S. 283).

Zivilisation, Über-Ich, Konditionierung, Manipulation ,zt-38

Korrespondenz Gesellschaftsaufbau -- Ich-Aufbau

Die Zivilisationskurve des Geschlechtstriebes verläuft, im großen besehen, parallel zu den Kurven anderer Triebäußerungen. Auch hier wird die Regelung immer strikter.

Auch das Geschlechtsleben, der Sex, wird langsam aus dem öffentlichen Leben der Gesellschaft immer stärker zurückgedrängt.

Die Zurückhaltung wird durch den Aufbau des gesellschaftlichen Lebens, durch den Druck der gesellschaftlichen Institutionen, durch bestimmte gesellschaftliche Exekutionsvorgänge, vor allem durch die Familie, dem Einzelnen als Selbstzwang von klein auf an gezüchtet.

Sexualität ist auf eine Enklave beschränkt, auf die gesellschaftlich legitimierte Ehe. Die Kleinfamilie wird zum primären Züchtungs- und Züchtigungsorgan der gesellschaftlich geforderten Triebgewohnheiten und Verhaltensweisen für den Heranwachsenden. (Anmerkung: Elias schrieb seinen 'Prozess der Revolution' vor 1936, hier fließt also noch nicht die Erfahrung der Prozesse in der späteren Sowjet-Union, bzw. der sozialistischen- und kommunistisch orientierten Erziehungssysteme).

Alle Menschen, mit denen das Kind in Berührung kommt, haben ihren Teil daran. Die Reproduktion der gesellschaftlichen Gewohnheiten, die Konditionierung findet in der Kleinfamilie statt.

Die Konditionierung erfolgt durch Reflexe.
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Quelle: Norbert Elias: Über den Prozess der Zivilisation, Erstmals veröffentlicht 1936, Francke Verlag: 1969 2. Auflage,Suhrkamp:1976 1. Auflage,19. Auflage 1995 Exzerpt: transitenator.
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Die Modellierung, der Charakter wird zum geringsten rational bestimmt, sondern durch den Druck von Scham- und Peinlichkeitsempfindungen und Unlustäußerungen.

Auf diese Weise reproduziert sich der gesellschaftliche Standard des Scham- und Peinlichkeitsempfindes in den Kindern.

Die Ausrichtung der Zivilisationsbewegung auf eine immer stärkere und vollkommenere Intimisierung aller körperlichen Funktionen, auf ihre Einklammerung in bestimmten Enklaven, ihre Verlagerung 'hinter verschlossene Türen' hat Konsequenzen sehr verschiedener Art.

Da ist die eigentümliche Gespaltenheit des Menschen zwischen den Seiten des menschlichen Lebens die sichtbar und die intim bleiben müssen. Alle fühlen sich mit soziogenen Scham- und Peinlichkeitsgefühlen beladen, die sogar das Sprechen einengen; die Funktionen selbst werden verborgen gehalten.

Es scheiden sich mit anderen Worten im Leben der Menschen selbst mit der fort schreitenden Zivilisation immer stärker eine intime oder heimliche Sphäre und eine öffentliche Sphäre, ein heimliches Verhalten und ein öffentliches Verhalten von einander.

Und diese Spaltung wird den Menschen so selbstverständlich, sie wird ihnen dermaßen zur zwingenden Gewohnheit, dass sie ihnen selbst kaum noch zum Bewusstsein kommt (S. 262). Es baut sich auch das psychische Gefüge des Menschen um.

Die durch die gesellschaftlichen Sanktionen gestützten Verbote werden dem Individuum als Selbstzwänge an gezüchtet.

Der Zwang der Zurückhaltung von Triebäußerungen und die Scham werden ihm so zur Gewohnheit gemacht, dass er allein, wenn er im intimen Raum ist sich ihrer nicht erwehren kann.

In ihm selbst kämpfen die Lust versprechenden Triebäußerungen mit den unlust-versprechenden Verboten und Einschränkungen, den soziogenen Scham- und Peinlichkeitsempfindungen.

Das suchte Sigmund Freud aus Wien mit 'Über-Ich', 'Unbewusstes' etc. zum Ausdruck zu bringen. Aber wie immer manfrau es ausdrückt, der gesellschaftliche Verhaltenscode prägt sich in dieser oder jener Form dem Menschen so ein, dass er gewissermaßen ein konstitutives Element des individuellen Selbst wird.

Das Über-Ich, das psychische Gefüge, das individuelle Selbst als Ganzes, wandelt sich in steter Korrespondenz mit dem gesellschaftlichen Verhaltenscode und mit dem Aufbau der Gesellschaft.

Diese Gespaltenheit des Ichs oder des Bewusstseins, das für Menschen in unserer Phase der Zivilisation typisch ist, korrespondiert (bzw. entspricht der) mit der spezifischen Zwiespältigkeit des Verhaltens, zu der das Leben in dieser Gesellschaft zwingt.

20070426

Zivilisation, Sex, Ehe, Emanzipation, zt-36

Wandlungen in der Einstellung zu den Beziehungen von Mann und Frau

Das Schamempfinden, das die sexuellen Beziehungen der Menschen umgibt, hat sich im Prozess der Zivilisation beträchtlich verändert und verstärkt.

Das zeigt sich bei Schwierigkeiten im Gespräch mit Kindern über Sex. Die 'Colloqien' des Erasmus waren berühmte und weitverbreitete Schriften seiner Zeit (1522).

Die katholische Kirche bekämpfte sie, aber eine Gegenschrift unterscheidet sich nicht in ihrer Unbefangenheit des Sprechens über sexuelle Angelegenheiten.

Die Humanisten schreiben vom Standard der weltlichen Gesellschaft, die Kleriker vom Standpunkt der Klerikergesellschaft.
Die Humanisten lösten die lateinische Sprache aus der kirchlichen Tradition und machten sie zu einer Sprache der weltlichen Oberschicht.

Das Bedürfnis, nach einem weltlichen gelehrten Schrifttum wird stärker.

Was Erasmus sagt, hätte im 19. Jahrhundert niemand, unter keinen Umständen, zu seinem Patenkind gesagt.

Die Gespräche des Erasmus von Rotterdam zeigen gleichzeitig den Stand des Mittelalters, bilden aber gleichzeitig einen Schub in Richtung Triebzurückhaltung, die dann das 19. Jahrhundert vor allem in Form der Moral rechtfertigt.

Die Humanisten (auch Erasmus) sind die Exekutoren dieses Bedürfnisses nach weltlichem Schrifttum der weltlichen Oberschicht.
In ihren Schriften nähert sich das Geschriebene wieder dem weltlich gesellschaftlichen Leben; die Erfahrungen des Lebens finden in das Schrifttum Eingang.

Auch das ist eine Linie in der großen Bewegung der Zivilisation. Hier wird manfrau einen Schlüssel für das 'Wiederaufleben' der Antike suchen müssen (S. 235).
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Quelle: Norbert Elias: Über den Prozess der Zivilisation, Erstmals veröffentlicht 1936, Francke Verlag: 1969 2. Auflage,Suhrkamp:1976 1. Auflage,19. Auflage 1995 Exzerpt: transitenator.
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Erasmus: "Socrates Philosophiam e coelo deduxit in terras: ego Philosophiam etiam in lusus, confabulationes et compotationes deduxi" (Wie Sokrates die Philosophie vom Himmel auf die Erde gezogen hat, so habe ich die Philosophie auch zu Spiel und Gelage hingeleitet).

Was dem Betrachter des 19. Jahrhunderts als 'gemeinste Darstellung der Wollust' erscheint, ist für Erasmus und seine Zeitgenossen ein Mustergespräch und Wunschbild.

Das 16. Jahrhundert wusste nicht viel von Prüderie und legte den Schülern in ihren Übungsbüchern Sätzen vor, für die sich heutige Pädagogen bedanken würden (S. 238).

Aber Erasmus hat den pädagogischen Zweck nie aus den Augen verloren.

Erst später entwickelt sich die Tendenz, dass Kinder sich wie Kinder benehmen sollten und dass Triebäußerungen von ihnen fern gehalten werden sollen ('schädlich für das Wachstum').

Erst im Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Veränderung können wir die ganze Problematik des 'Erwachsenenseins', wie es sich heute darstellt unserem Verständnis zugänglicher machen.

Heute (Anm.: 1936, bitte siehe Quelle) existiert eine Schamangst mit der der sexuelle Bezirk des Triebhaushalts belegt ist, mit dem Bann des Schweigens, so gut wie vollkommen.
Der Hinweis auf sie im Verkehr mit Kindern ist ein Verbrechen, eine Beschmutzung der Kinderseele, zumindest ein Konditionierungsfehler.
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Quelle: Norbert Elias: Über den Prozess der Zivilisation, Erstmals veröffentlicht 1936, Francke Verlag: 1969 2. Auflage,Suhrkamp:1976 1. Auflage,19. Auflage 1995 Exzerpt: transitenator.
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Zu Erasmus' Zeit wussten die Kinder von den verschiedenen Institutionen. Allenfalls warnte manfrau sie davor. Das tut Erasmus.
Die Mauer der Heimlichkeit, der Erwachsenen selbst, war gering.
Kinder wussten über sexuelle Angelegenheiten Bescheid, der Erzieher sollte richtiges Verhalten zeigen.

1438 wurden Dirnen (Hübscherinnen, die schönen Frauen, gemain Frawen) hohen Gästen zur Begrüßung entgegengeschickt. Die hohen Gäste werden im Frauenhaus frei gehalten.
Das gehörte, wie etwa das Gastmahl zur Bewirtung, die man hohen Gästen bot.
Die Hübscherinnen bildeten eine Korporation mit bestimmten Pflichten und Rechten. Ihre soziale Stellung war niedrig und verachtet, aber durchaus öffentlich und nicht mit Heimlickeit umgeben.

Diese Form der außer ehelichen Beziehung zwischen Mann und Frau, war noch nicht 'hinter die Kulissen' verlegt.

Ein Blick auf die Hochzeitsgebräuche: 'Ist das Bett beschritten, ist das Recht erstritten'. So hieß es im späteren Mittelalter.
Ein anderer Standard des Schamgefühls, als der, der dann im 19. u. 20. Jahrhundert herrschend wird, wo alles was das sexuelle Leben betrifft, in relativ hohem Maße verdeckt und hinter die Kulissen verwiesen wird.

Vorher war die Beziehung der Geschlechter noch in das öffentliche Leben eingebaut und selbstverständlicher, dass auch die Kinder damit vertraut waren.

In der höfisch-aristokratischen Gesellschaft, war das sexuelle Leben schon erheblich verdeckter, als in der mittelalterlichen, dennoch ist die Verdeckung der Sexualität gering und eine größere Unbefangenheit des Sprechens und auch des Handeln im Verkehr mit den Kindern.

Erst allmählich breitet sich dann eine stärkere Scham- und Peinlichkeitsbelastung der Geschlechtlichkeit und Zurückhaltung des Verhaltens über die Gesellschaft hin aus.
Und erst dann, wenn die Distanz zwischen Erwachsenen und Kindern wächst, wird das, was wir die 'sexuelle Aufklärung' nennen, zu einem brennenden Problem (S. 245).

1875 hat Raumer eine Schrift über die Erziehung der Mädchen herausgegeben. Er schreibt ein Modellverhalten von Erwachsenen bei der Begegnung mit der sexuellen Frage vor. Er produziert eine lächerliche Gottesvorstellung. (siehe S. 246).

Zwischen der Art von sexuellen Beziehungen, wie sie Erasmus präsentiert und der von Raumer zeichnet sich eine Zivilisationskurve wie bei den anderen Triebäußerungen aufgezeigt.

Die Sexualität wird im Prozess der Zivilisation mehr und mehr hinter die Kulissen des gesellschaftlichen Lebens in die Enklave der Kleinfamilie eingeklammert, mit einer Aura der Peinlichkeit und Ausdruck der soziogenen Angst.

Raumer gibt keine Begründung, warum manfrau nicht über Sex mit Kindern sprechen soll. In dieser Zeit (19. Jahrhundert) wächst die Überflutung mit Scham- und Peinlichkeitsgefühlen.

So selbstverständlich es zu Erasmus' Zeiten war von Sex zu sprechen, so selbstverständlich ist es im 19. Jh. davon nicht zu sprechen. Beide berufen sich auf Gott.

Es sind nicht rationale Motive die hinter Raumers Modellgebung stehen. Im Vordergrund steht die Notwendigkeit, Scheu vor diesen Dingen, nämlich Scham-, Angst-, Peinlichkeits- und Schuldgefühle zu züchten, oder genauer gesagt, ein Verhalten, das dem gesellschaftlichen Standard gemäß ist.
Es handelt sich nicht um ein individuelles, sondern um ein gesellschaftliches Problem. Die sexuelle Region ist zu einer heimlichen geworden.

Nicht rationale Motive, nicht Zweckmäßigkeitsgründe sind primär für diese Haltung bestimmend, sondern die zum Selbstzwang gewordene Scham des Erwachsenen selbst.

Es sind die gesellschaftlichen Verbote und Widerstände in ihrem Inneren, es ist ihr eigenes 'Über-Ich', das ihnen den Mund schließt (S. 248).

Erasmus hat noch kein Problem aufzuklären. Die Zurückhaltung der Erwachsenen ist noch nicht so groß und damit auch die Mauer der Heimlichkeit zwischen den Kulissen.
Und auch die 'Mauer' um den Heranwachsenden welcher die Schwierigkeit hat, auf den gleichen Standard der Erwachsenen zu kommen, das Sprechen darüber aber schwierig gemacht wird.

Die soziogenen Verdrängungen leisten dem Sprechen Widerstand.

Die psychische Problematik des jungen Menschen, ist nicht ein für alle Zeiten gleicher Ablauf, sondern gestaltet sich nach den Beziehungen zwischen Kind und Erwachsenen.

Diese Beziehungen wandeln sich aber je nach Aufbau einer Gesellschaft. Verstehen kann manfrau also diese Problematik nur aus der geschichtlichen Phase, aus dem Aufbau der ganzen Gesellschaft, der den Standard des Erwachsenen-Verhaltens aufrecht erhält.

Die Kirche hat sicherlich frühzeitig für die Einehe gekämpft, aber bis ins 16. Jahrhundert braucht manfrau sich außer ehelicher Beziehungen nicht zu schämen. Die 'Bastardkinder' werden mit der Familie erzogen.

Erst in der berufsbürgerlichen Gesellschaft Tendenz zur Verheimlichung.

Die kirchliche Forderung ist nicht Maßstab für den wirklichen Standard der weltlichen Gesellschaft. Im 17. u. 18. Jahrhundert wird die Herrschaft des Mannes über die Frau ziemlich gebrochen.

Die soziale Stärke der Frau ist hier annähernd gleich groß. Die gesellschaftliche Meinung wird in sehr hohem Maß von Frauen mitbestimmt.

Auch die außer eheliche Beziehung der Frau gilt in gewissen Grenzen als legitim.

Also eine erste 'Emanzipation' der Frau in der höfisch-absolutistischen Gesellschaft. (S. 252).

Also ein Zurücktreten von Triebrestriktionen für die Frauen und ein Vorrücken der Triebrestriktionen für die Männer; sie bedeutete für beide den Zwang zu einer neuen und stärkeren Selbstdisziplinierung der Affekte im Verkehr miteinander.

"Ich lasse dir deine Freiheit", sagt einer zu seiner Frau, "aber ich weiß, ich setze dir damit engere Schranken, als mit irgendwelchen Geboten oder Vorschriften". Er erwartet mit anderen Worten nun auch von ihr die gleiche Selbstbeschränkung, die gleiche Selbstdisziplin, die er sich auferlegt(S. 253).
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Quelle: Norbert Elias: Über den Prozess der Zivilisation, Erstmals veröffentlicht 1936, Francke Verlag: 1969 2. Auflage,Suhrkamp:1976 1. Auflage,19. Auflage 1995 Exzerpt: transitenator.
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In der höfischen Aristokratie gilt die Beschränkung der sexuellen Beziehung auf die Ehe sehr oft als bürgerlich und nicht als standesgemäß.

Ein bestimmter Stand der menschlich-gesellschaftlichen Gebundenheit korrespondiert mit einer bestimmten Form von Freiheit. Es gibt Befreiungen von einer Form von Gebundenheit, die stark drücken.

Freiheit oder Zwang als Antithesen wie Himmel und Hölle?

Der Prozess der Zivilisation und der Fortschritt der Bindungen geht Hand in Hand mit Befreiungen mannigfachster Art.
Das symbolisiert die Ehe an den absolutistischen Höfen. Die Frau war hier freier von äußeren Zwängen als in der ritterlichen Gesellschaft.

Aber der innere Zwang, der Selbstzwang, den sie entsprechend der Integrationsform und dem Verhaltenscode der höfischen Gesellschaft auferlegen musste, war für die Frau wie für den Mann im Verhältnis zur ritterlichen Gesellschaft gewachsen.

Ähnliches zeigt sich bei der Betrachtung der bürgerlichen Eheform des 19. Jahrhunderts im Vergleich zu der höfisch-aristokratischen des 17. u. 18. Jahrhunderts.

Das Bürgertum als Ganzes ist im 19. Jahrhundert vom Druck der absolutistisch-ständischen Gesellschafts-Verfassung befreit und den Zwängen, als zweitrangige Menschen enthoben. Aber andere Verflechtungen sind gewachsen.

Die gesellschaftliche Gebundenheit des Einzelnen ist stärker als zuvor.

Das Schema der Selbstzwänge, das den Menschen der bürgerlichen Gesellschaft im Zusammenhang mit der Berufsarbeit auferlegt wird ist nun anders.

Der Selbstzwang, den die bürgerlichen Funktionen (Berufsarbeit), den vor allem das Geschäftsleben verlangt und produziert, ist noch stärker als der, den die höfischen Funktionen erforderten.

Eine besonders strenge Disziplinierung der Sexualität wird notwendig.

Vom Standard der bürgerlichen Gesellschaft wird jede außer eheliche Beziehung der Geschlechter verurteilt. Die gesellschaftliche Stärke des Mannes ist zunächst stärker als die der Frau. Der Mann wird nachsichtiger beurteilt.

Manfrau kann den Trend der Bewegung herausarbeiten, durch die Beobachtung der Männer der Oberschicht. Ritter (Krieger)-Höflinge-Berufsbürger.

Die heutige Badekleidung hat einen sehr hohen Standard der Triebgebundenheit zur Voraussetzung.

Nur in einer Gesellschaft, in der ein hohes Maß von Zurückhaltung zur Selbstverständlichkeit geworden ist, und in der Frauen, wie Männer absolut sicher sind, dass starke Selbstzwänge und eine strikte Umgangsetikette jeden Einzelnen im Zaume halten, können sich Bade- und Sportgebräuche von solcher Art und Freiheit entfalten (S. 257).

Globalisation, Globalisierung, Wettbewerb, Androsch

Der österreichische Industrielle und ehemalige Finanzminister Dr. Hannes Androsch hat einen mit 100.000.- € dotierten Preis für Antworten auf die Globalisierungsfrage ausgeschrieben. Die konkrete Frage ist "wie in Zeiten der Globalisierung die nationalen Arbeitsbedingungen und Sozialversicherungssysteme erhalten und verbessert werden können".

Einreichschluss ist der 31. Dezember 2007.

Gute Ideen sind hier also gefragt. In den nächsten Tagen wird der Wettbewerb international ausgeschrieben. Spannend mag sein ob bei den kommenden Antworten auch solche dabei sein werden, welche nicht nur rein ökonomische Aspekte behandeln, sondern darüber hinaus imstande sind auch jene Zivilisationsprozesse zu berücksichtigen, die ja nicht nur erst seit gestern das Abendland bzw. eben gerade jetzt die ganze Welt formen. Dr. Hannes Androsch hat einmal gesagt, dass gute Wirtschaftspolitik zu ca. 50 Prozent aus Psychologie bestehen würde. Tatsächlicherweise ist Psychologie auch ein wichtiger Faktor bei der Beobachtung von Wirtschaftsprozessen.

2004 hat Hannes Androsch eine nach ihm benannte Stiftung bei der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) eingerichtet, die zunächst mit einer Mio. Euro dotiert ist. Bis zum Jahr 2012 soll das Stiftungsvermögen auf zehn Mio. Euro angehoben werden. Aus den Anlageerlösen sollen wissenschaftliche Arbeiten zu den Themenschwerpunkten "Arbeit und Festigung des sozialen Ausgleichs und Friedens" gefördert werden.

Die Stiftung ist nach Angaben der ÖAW die bedeutendste von privater Hand getragene gemeinnützige Stiftung in Österreich seit 1945. Ihre Einrichtung entspricht, so Androsch, seinem "Selbstverständnis als Citoyen, als sich der Gesellschaft gegenüber verpflichtet fühlender Staatsbürger". "Wenn man das Glück hat, zu einem gewissen Wohlstand gekommen zu sein, sollte man einen Beitrag für die künftige Entwicklung leisten", begründete Androsch gegenüber der APA seine Beweggründe für die Einrichtung der Stiftung. Die ÖAW habe er für seine Stiftung ausgewählt, weil sie eine "Visitenkarte für Wissenschaft und Forschung in Österreich" sei. Präsident der Stiftung ist Androsch. Thema "Arbeit": Für Lösungen der Zukunft

Das Thema "Arbeit" hat Androsch gewählt, "weil es für jeden Menschen ein essenzielles ist". Der Übergang zur Informations-, Bildungs- und Wissensgesellschaft, die Globalisierung, die demografischen Veränderungen und die alternde Gesellschaft würden unsere Gesellschaft im Allgemeinen und die Arbeitswelt im Besonderen von Grund auf verändern.
Es sei daher notwendig, rechtzeitig auf die sich abzeichnenden Veränderungen zu reagieren, um perspektivische Ansätze und Modelle für sozialverträgliche Problemlösungen und deren zukunftstaugliche Bewältigung entwickeln zu können.

Dr. Hannes Androsch - die Person

Die besten Berichte des WirtschaftsBlatt zum Thema Hannes Androsch.

Globalisierung - was ist das und was dagegen tun?

Die besten Berichte des WirtschaftsBlatt zum Thema Die Globalisierungsfalle.

Verhalten im Mittelalter, Schlafen, zt-36

Das Schlafzimmer ist zu einem der 'privatesten' und 'intimsten' Bezirke des menschlichen Lebens geworden. Wie die meisten körperlichen Verrichtungen hat sich auch das 'Schlafen' hinter die Kulissen des gesellschaftlichen Verkehrs verlagert.

Die Kleinfamilie ist als legitime Enklave übrig geblieben. Ihre sichtbaren und unsichtbaren Mauern entziehen das 'Privateste', 'Intimste', 'Tierische' im Dasein des einen Menschen den Blicken der anderen.

Im Mittelalter war es gewöhnlich, dass viele (einander fremde) Menschen in einem Raum übernachteten. Einander fremde Menschen schlafen in einem Bett. Das gilt als selbstverständlich und ist in keiner Weise anstößig. Völlig ausgezogen oder völlig angezogen.

Eventuell Verdacht wenn jemand angezogen war, dass er einen Schaden hatte. Generell größere Unbefangenheit gegenüber dem Zeigen des nackten Körpers. Manfrau sich zu Hause auszog, bevor manfrau ins Badehaus ging. Geringere Distanzierung der Individuen.

Der Anblick völliger Nacktheit war die alltägliche Regel bis ins 16. Jh. Die Menschen waren 'kindlicher'. Das zeigen die Schlaf- und Badesitten.
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Quelle: Norbert Elias: Über den Prozess der Zivilisation, Erstmals veröffentlicht 1936, Francke Verlag: 1969 2. Auflage,Suhrkamp:1976 1. Auflage,19. Auflage 1995 Exzerpt: transitenator.
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Diese Unbefangenheit verschwindet langsam im 16. 17. u. 18. Jh. Der Ton verschärft sich. Es wird sogar peinlich Begründungen auszusprechen. Manfrau lässt das Kind nur durch das Bedrohliche des Tons fühlen, dass mit dieser Situation Gefahren verbunden sind. Der Erwachsene erklärt seine Verhaltensforderung nicht. Jede Durchbrechung der Verbote bedeutet eine Gefahr und eine Entwertung der Zurückhaltung.

Der emotionale Unterton verbindet sich mit einer moralischen Forderung, eine bedrohliche Strenge sind Reflexe der Gefahr, in die die Durchbrechung der Verbote bringt. Sie sind Symptome der Angst, die ihre eigene soziale Existenz, wie die Ordnung ihres gesellschaftlichen Lebens bedroht sehen. Eine spezielle Nachtbekleidung kam in der gleichen Zeit langsam in Gebrauch wie Gabel, oder Schnupftuch; wie die anderen 'Zivilisationsgeräte' ein Symbol der entscheidenden Wandlung.

Das Schamgefühl haftete sich an Verhaltensweisen, die bisher nicht mit solchen Gefühlen belegt waren. Die Schamgrenze rückt vor. Die Unbefangenheit schwindet. Auch die mit der manfrau Bedürfnisse vor anderer Augen verrichtet.

Mit dieser geringeren Selbstverständlichkeit, gewinnt der nackte Körper in der Kunst als Traumbild und Wunscherfüllung an Bedeutung. Er wird 'sentimentalisch' (Schiller) im Unterschied zu der vorher naiven Formung (in der Kunst).

Das Nachthemd ist repräsentativ ausgestaltet. Der Übergang vom Nachthemd zum Schlafanzug entspricht dem Schamstandard, aber Schlafen ist auch nicht mehr so wie vorher intimisiert. Das Nachthemd des 19. Jhs. musste alle Körperformen ganz verdecken. Das Intime und Private war dem gesellschaftlichen Leben besonders abgewandt und wenig durchformt. Diese Undurchgeformtheit des Intimen ist für die Gesellschaft des 19. Jhs. charakteristisch.

Ähnlich, wie in der Gestaltung des Essens, wächst kontinuierlich die Wand, die sich zwischen Mensch und Mensch erhebt, die Scheu, die Affektmauer, die durch die Konditionierung zwischen Körper und Körper errichtet wird.

Mit jemandem Fremden das Bett zu teilen ist nun peinlich. Tiefgreifende Veränderungen der zwischenmenschlichen Beziehungen und Verhaltens-weisen kommen in unserer Lebensanordnung zum Ausdruck. Es versteht sich also nicht von selbst, dass Bett und Körper psychische Gefahrenzonen so hohen Grades bilden, wie in der letzten Phase der Zivilisation (S. 230).

20070425

Verhalten im Mittelalter, Spucken, zt-35

Das Spucken bildet ein besonders anschauliches Exempel dafür, wie sich die Zivilisation des Verhaltens produzierte. Im Mittelalter war es nicht nur ein Brauch, sondern offenbar ein allgemeines Bedürfnis, häufig zu spucken. Auch in der ritterlich-höfischen Oberschicht selbstverständlich.

Im 16. Jahrhundert wird der Druck stärker. Erasmus, der eine Übergangszeit markiert, erwähnt die Verwendung eines Tuchs, aber nicht als Notwendigkeit. Spucken wird allmählich peinlicher.

1774 ist der ganze Gebrauch schon erheblich peinlicher. Im 19. Jahrhundert der Spucknapf als technisches Gerät. Dann wird dieses Gerät entbehrlich und das Bedürfnis zu spucken scheint völlig verschwunden zu sein (S. 214).
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Quelle: Norbert Elias: Über den Prozess der Zivilisation, Erstmals veröffentlicht 1936, Francke Verlag: 1969 2. Auflage,Suhrkamp:1976 1. Auflage,19. Auflage 1995 Exzerpt: transitenator. Ab Mai 2007: Erasmus von Rotterdam und sein Lob der Narrheit ('Torheit') auf dem Blog: Ergasmus.
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Das Spuckverbot unterscheidet von anderen Verboten, dass sich hier die Fremdzwänge mehr oder weniger vollkommen in Selbstzwänge verwandelt haben.

Unter dem Druck des 'Über-Ich' schwindet diese Gewohnheit aus dem Bewusstsein. Zurück bleibt im Bewusstsein als Motivation der Furcht irgendeine Überlegung auf längere Sicht, vielleicht ein Bild bestimmter Krankheiten, eine rationale Einsicht.

Aber diese rationale Einsicht war nicht die primäre Ursache der Furcht- und Peinlichkeitsgefühle, nicht der Motor der Zivilisation oder der Antrieb zur Veränderung des Verhaltens (S. 215). Die rationale Einsicht kommt dem Menschen erst in einer späten Phase (19. Jahrhundert), gewissermaßen erst nachträglich.

Jemand, der beim Essen schmatzt weckt gegenwärtig (in den USA und Europa etc.) peinliche Empfindungen.

Die Peinlichkeits- und Ekelgefühle verstärken sich mit den Tabus, bevor manfrau eine Vorstellung von Krankheitskeimen hat.

Was zunächst die Peinlichkeitsgefühle und die Restriktionen auslöst und wachsen macht, ist eine Umformung der menschlichen Beziehungen und Abhängigkeitsverhältnisse. Die Motivierung aus gesellschaftlicher Rücksicht ist lange da vor der Motivierung durch naturwissenschaftliche Einsichten.

Der König verlangt diese Zurückhaltung als Respekt von den Höflingen. Hier, wie in den anderen Zivilisationskurven, verbindet sich die Mahnung: 'So etwas tut manfrau nicht', mit der manfrau Zurückhaltung, Angst, Scham und Peinlichkeit züchtet, erst sehr spät mit einer wissenschaftlichen Theorie, mit einem Begründungszusammenhang, der für alle Menschen gilt.

Aber: Der primäre Antrieb kommt nicht aus der rationalen Einsicht in die Entstehung von Krankheiten, sondern aus den Veränderungen in der Art wie die Menschen miteinander leben, aus den Veränderungen im Aufbau der Gesellschaft.

Spucken ist ein gutes Beispiel für die Formbarkeit des Seelenhaushaltes.

Es erhebt sich die Frage, nach den Grenzen der Transformierbarkeit des Seelenhaushaltes. Ohne Zweifel hat diese Formbarkeit eine bestimmte natürliche Eigengesetzlichkeit. In ihrem Rahmen formt der geschichtliche Prozess, sie gibt Spielraum und setzt Grenzen. Die Bildung von Scham- und Peinlichkeitsgefühlen, das Vorrücken der Peinlichkeitsschwelle, ist beides, natürlich und geschichtlich zugleich.

Jedenfalls ist der Seelenhaushalt der 'Primitiven' nicht weniger als der der 'Zivilisierten' geschichtlich, nämlich gesellschaftlich geprägt.

Es gibt keinen Nullpunkt der Geschichtlichkeit in der Entwicklung der Menschen, wie es auch keinen Nullpunkt der Soziebilität, der gesellschaftlichen Verbundenheit von Menschen gibt (S. 218).

20070424

Verhalten im Mittelalter, Schneuzen, Konditionierung, zt-34

In der mittelalterlichen Gesellschaft schneuzte manfrau sich mit den Händen. Die Höflichkeit der Courtoisie: Mit der Linken schneuzen, mit der Rechten das Fleisch nehmen. Keine peinlichen Empfindungen im Mittelalter wenn manfrau sich die Finger beschmutzt.

Es waren besondere gesellschaftliche und seelische Voraussetzungen nötig, um das Bedürfnis nach einem so simplen Instrument wie dem Taschentuch den Gebrauch allgemein möglich zu machen. Der Gebrauch des Taschentuchs breitet sich zuerst in Italien im Zusammenhang mit seinem Prestigewert aus.

Damen hängen es an den Gürtel, Snobs tragen es im Mund. Es ist kostbar und gilt als Zeichen von Reichtum. Erst Ludwig XIV. hat reichlich Taschentücher.

Zur Zeit des Erasmus ist das Taschentuch zwar bekannt aber manfrau schneuzt sich noch links und rechts und vielleicht etwas vom Tisch abgewandt.

Zwei Jahrhunderte später ist der Gebrauch des Taschentuchs allgemein geworden, aber der Gebrauch der Hände ist keinesfalls verschwunden so kann manfrau es es auch noch heute im Jahre 2007 in europäischen Gegenden sehen. Aber es ist zur Unsitte geworden, ordinär und vulgär.

Bis zu dieser Zeit (La Salle) werden Gewohnheiten fast immer ausdrücklich in ihrer Beziehung zu anderen Menschen beurteilt.

Gewohnheiten werden untersagt, weil sie anderen lästig und peinlich sein können, oder weil sie einen Mangel an Respekt verraten (S. 204).

Jetzt werden die gesellschaftlich unerwünschten Triebäußerungen radikaler verdrängt. Sie werden für den Menschen mit Peinlichkeit, Angst, Scham- oder Schuldgefühlen belegt, auch für den Fall, dass er allein ist.

Vieles von dem, was wir 'Moral' oder 'moralische Gründe' nennen, hat als Konditionierungsmittel der Kinder bei einem bestimmten gesellschaftlichen Standard die gleiche Funktion wie zum Beispiel die 'Hygiene' und die 'hygienischen' Gründe (S. 204).

Die Modellierung durch solche Mittel ist darauf abgestellt, das gesellschaftlich erwünschte Verhalten zu einem Automatismus, einem Selbstzwang zu machen und es im Bewusstsein des Einzelnen als von ihm selbst aus eigenem Antrieb, nämlich um seiner eigenen Gesundheit oder seiner eigenen menschlichen Würde willen, so gewolltes Verhalten in Erscheinung treten zu lassen.

Und erst mit dieser Art, Gewohnheiten zu verfestigen, erst mit dieser Konditionierungsart, die mit den mittelständisch-bürgerlichen Schichten zugleich vorherrschend wird, erhalten die Konflikte zwischen den gesellschaftlich unauslebbaren Triebkräften und Triebrichtungen auf der einen und dem im Einzelnen verankerten Schema der gesellschaftlichen Forderungen auf der anderen Seite dermaßen jene Gestalt die von den Seelentheorien in den Mittelpunkt der Betrachtung gerückt werden.
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Quelle: Norbert Elias: Über den Prozess der Zivilisation, Erstmals veröffentlicht 1936, Francke Verlag: 1969 2. Auflage,Suhrkamp:1976 1. Auflage,19. Auflage 1995 Exzerpt: transitenator. Ab Mai 2007: Erasmus von Rotterdam und sein Lob der Narrheit ('Torheit') auf dem Blog: Ergasmus.
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Das was wir heute (40er Jahre des 20. Jahrhunderts) als Neurosen um uns beobachten, ist eine bestimmte, historisch gewordenen Gestalt des psychischen Konflikts, die der psychogenetischen und soziogenetischen Aufhellung bedarf (S. 204).

Die gesellschaftliche Abhängigkeit und ihr Aufbau sind für Aufbau und Schema der Affektrestriktionen von entscheidender Bedeutung.

Mit der wachsenden Abhängigkeit in der Oberschicht verstärken sich auch die Verbote (Einschränkungen, Restriktionen).

Die Tatsache der abhängigen Oberschicht erklärt zugleich das Doppelgesicht, das die Verhaltensweisen und die Zivilisations-instrumente haben: Es sind Instrumente und Verhaltensweisen, die einen gewissen Zwang ausdrücken und Versagung erfordern, aber sie erhalten sofort immer auch den Sinn einer sozialen Waffe gegen die jeweils Niedrigerstehenden, den Sinn eines Distinktionsmittels.

Taschentuch, Teller, Gabel und alle ihre Verwandten sind zunächst Luxusgegenstände mit Prestigewert.

Im 19. u. 20. Jh. handelt es sich um gesellschaftlich in besonders hohem Maße gebundene Oberschichten (S. 207).

Am Arbeitsplatz sind Triebregelung und -zurückhaltung zur 'Arbeit' notwendig. Das gilt für das gesamte Schema der Triebmodellierung in der bürgerlich-industriellen Gesellschaft.

Es sind Zwänge der gesellschaftlichen Verflechtung, der Arbeitsteilung, des Marktes und der Konkurrenz, die zur Zurückhaltung und Regelung der Affekte und der Triebe zwingen. Sie sind es, denen die oben erwähnte Begründungs- und Konditionierungsart entspricht.

Die Modellierung ist darauf abgestellt, das gesellschaftlich erforderliche (geforderte) Verhalten als vom einzelnen Menschen (dem Individuum) selbst (also aus des Individuums eigenem inneren Antrieb gewolltes Verhalten) in Erscheinung treten zu lassen. :-) :-) :-) ...so to speak...

20070423

Zivilisationskurve, Schamgrenze, Notdurft, zt-33

Wandlungen in der Einstellung zu den natürlichen Bedürfnissen.
"Notdurft in anderer Leute Gegenwart zu verrichten ist abscheulich."
"Denn immer sind die Engel zugegen".
Einige Bemerkungen zu den Beispielen und zu diesen Wandlungen im allgemeinen.

Die courtoisen Verse sagen nicht viel zu diesem Thema. Die gesellschaftlichen Ge- und Verbote, die diese Bezirke des Lebens umgeben sind relativ gering. Alles ist ungezwungener.

Die Schrift des Erasmus markiert auch hier einen Punkt in der Zivilisationskurve, einen Vorstoß der Schamgrenze, aber auch einen Mangel an Scham. Aber es ist ganz deutlich, dass diese Schrift gerade die Funktion hat, Schamgefühle zu züchten.

Begründungen mit der Allgegenwart von Engeln ist recht charakteristisch. Die Begründung für die Angst, die manfrau im jungen Menschen erweckt, um ihn dem gesellschaftliche Verhaltensstandard gemäß zur Zurückdrängung seiner Lustäußerungen zu zwingen, wechselt im Lauf der Jahrhunderte.

Hier erklärt und substanzialisiert man sich und anderen die Trieb- oder Triebverzichts-Angst als Angst vor äußeren Geistern.

In den breiteren Schichten bleibt der Hinweis auf den Schutzengel als Konditionierungsinstrument der Kinder lange erhalten. Wenn dann die 'hygienischen Gründe' auftauchen spielt der Schutzengel nicht mehr eine so große Rolle.

'Hygienische Gründe' die bei den Erwachsenen-Gedanken (Konditionierung) eine gewichtige Rolle spielen. Was ist rational oder schein-rational?

Die Konditionierungstaktiken werden primär durch das Peinlichkeits- und Schamgefühl der Erwachsenen begründet (S. 182). An die Stelle des Hinweises auf den Respekt, den man Höherstehenden schuldet tritt (z.B. im Jahre 1774) der Hinweis auf gesundheitliche Schädigungen als Konditionierungsinstrument (S. 200).

Erasmus ist mit seiner Schrift der Wegbereiter eines neuen Scham- und Peinlichkeitsstandards, der sich zunächst in der weltlichen Oberschicht langsam heraus zu bilden beginnt. Er schildert mit größter Unbefangenheit, wie zu dieser Zeit die Bedürfnisse vor anderer Augen verrichtet werden.

Gesundheitliche Begründungen finden sich nicht sehr häufig in seiner Schrift. Erst im 19. Jahrhundert dienen sie (gesundheitliche Begründungen) als Instrumente der Konditionierung um Zurückhaltung und Triebverzicht zu erzwingen. Mehr und mehr breitet sich über diese Notwendigkeiten der Bann des Schweigens der früher nicht bestand.

Bei dem spezifischen und dauerndem Zusammenleben vieler sozial abhängiger Menschen am Hof verstärkt sich der Druck von oben zu einer schärferen Regelung des Triebhaushaltes und damit zu einer größeren Zurückhaltung (S. 186).

Eine genauere Triebregelung und Zurückhaltung der Affekte fordern und erzwingen zunächst die sozial Höherstehenden von den sozial Niedrigstehenderen.

Erst verhältnismäßig spät wird die Familie zur alleinigen oder genauer gesagt, zur primären und vorherrschenden Produktionsstätte des Triebverzichts; erst dann wird die gesellschaftliche Abhängigkeit des Kindes von den Eltern zu frühesten und besonders intensiven Kraftquelle (Anmerkung: oder Desaster) der gesellschaftlich notwendigen Affekt-Regulierung und -modellierung. (In der ritterlich-höfischen Phase haben die Höfe selbst diese Funktion).

Im Zuge der späteren wachsenden Arbeitsteilung wird die Verflechtung der Menschen intensiver und alle (höhere und niedere) werden gegenseitig abhängig und selbst die sozial Stärkeren schämen sich (nun auch) vor den sozial Niedrigerstehenden.

Es gibt bei Erasmus (Diversoria) Personen , vor denen man sich schämt und andere vor denen man sich nicht schämt. Das Schamgefühl ist hier deutlich eine gesellschaftliche Funktion und modelliert entsprechend dem gesellschaftlichen Aufbau. Noch im 17. Jahrhundert empfangen Hochstehende Niedere auf dem Klo. Das ist Bevorzugung. Die Freundin Voltaires schämt sich beim Baden nicht vor dem Kammerdiener.

In dieser hierarchisch aufgebauten Gesellschaft bekam jede Aktion im Zusammensein der Menschen den Sinn eines Prestigewertes. Dann, wenn alle gleicher werden, wird es langsam zu einem allgemeinen Verstoß.

Die Gesellschaftsbezogenheit der Scham- und Peinlichkeitsgefühle tritt mehr und mehr aus dem Bewusstsein zurück. Das gesellschaftliche Gebot erscheint dem Erwachsenen als Gebot seines eigenen Inneren und erhält die Form eines mehr oder weniger automatisch wirkenden Selbstzwanges.

Diese Aussonderung der natürlichen Verrichtungen aus dem öffentlichen Leben war nur möglich, weil mit der wachsenden Empfindlichkeit zugleich ein technischer Apparat (Victory!, die Klomuschel im speziellen Kämmerlein :-) entwickelt wurde, der dieses Problem der Ausschaltung solcher Funktionen aus dem gesellschaftlichen Leben und ihre Verlegung hinter dessen Kulissen einigermaßen befriedigend löste.

Es verhielt sich auch damit ähnlich wie mit der Esstechnik. Der Prozess der seelischen Veränderung, das Vorrücken der Schamgrenze und der Peinlichkeitsschwelle ist nicht von einer Seite und ganz gewiss nicht aus der Entwicklung der Technik oder der wissenschaftlichen Entdeckungen zu erklären.

Die Entwicklung einer dem veränderten Standard entsprechenden Apparatur bedeutet eine außergewöhnliche Verfestigung der veränderten Gewohnheiten.

Heute tritt eine gewisse Lockerung ein, die in dieser Form nur möglich ist, weil der Stand der Gewohnheiten, der technisch-institutionell verfestigten Selbstzwänge im großen und ganzen gesichert ist.

Der Standard, der sich in unserer Phase der Zivilisation herausbildet, ist durch eine mächtige Distanz zwischen dem Verhalten der Erwachsenen und der Kinder charakterisiert.

Die Kinder müssen in verhältnismäßig wenig Jahren, den vorgerückten Stand der Scham- und Peinlichkeitsgefühle erreichen, die sich in vielen Jahrhunderten herausgebildet hat (S. 190).

Die Eltern sind oft unzulängliche Instrumente, die primären Exekutoren der Konditionierung, aber durch sie ist es die Gesellschaft als Ganzes, die Druck auf den Heranwachsenden ausübt und ihn sich zurecht formt.

Im Mittelalter war Regelung und Zurückhaltung geringer und so auch ein erheblich geringerer Unterschied im Verhalten der Erwachsenen und der Kinder (S. 191). Das Maß von Triebverhaltung und -regelung das die Erwachsenen voneinander erwarteten war nicht viel größer als das den Kindern auferlegte. Die Distanz zwischen Erwachsenen und Kindern war, gemessen an der heutigen Distanz, gering (S. 192).

Ein Kind, das heutzutage nicht auf den Stand der gesellschaftlich geforderten Affektgestaltung gelangt, gilt in verschiedenen Abstufungen als 'krank, anormal, unmöglich...' und bleibt vom öffentlichen Leben (außer Behinderteneinrichtungen etc.) ausgeschlossen.

Die Psychoanalyse entdeckt die Triebrichtungen in der Form unausgelebter Neigungen, die manfrau als Unterbewusstsein oder Traumschicht bezeichnen kann. Und diese Neigungen haben in unserer Gesellschaft den Charakter eines 'infantilen' Residuums, weil der gesellschaftliche Erwachsenenstandard eine völlige Unterdrückung und Umbildung dieser Triebrichtung erforderlich macht. Beim Auftreten im Erwachsenen erscheint sie als ein 'Überbleibsel' aus der Kinderzeit (S. 193).

Die Gesellschaft beginnt an bestimmten Funktionen die positive Lustkomponente durch die Erzeugung von Angst allmählich immer stärker zu unterdrücken oder, genauer gesagt, zu 'privatisieren', nämlich ins 'Innere' des Einzelnen, in die 'Heimlichkeit' abzudrängen, und die negativ geladenen Affekte, Unlust, Abscheu, Peinlichkeit allein als die gesellschaftsüblichen Empfindungen in der Konditionierung herauszuarbeiten.

Mit dieser gesellschaftlichen Verfemung vieler Triebäußerungen und mit ihrer 'Verdrängung' von der Oberfläche sowohl des gesellschaftlichen Lebens, wie des Bewusstseins wächst notwendigerweise auch die Distanz zwischen dem Seelenaufbau und dem Verhalten der Erwachsenen und dem der Kinder.

Messer Affekt, Gabel Inkarnation Emotion zt-32

Auch das Messer in der Art seines gesellschaftlichen Gebrauchs ist Inkarnation der Seelen, ihrer veränderten Triebe, Wünsche, geschichtlicher Situationen und gesellschaftlicher Aufbaugesetze.

An die offensichtliche Gefährlichkeit des Messers heften sich Affekte. Das Messer wird zum Symbol für die verschiedenartigsten Empfindungen, die mit seinem Zweck und seiner Gestalt zusammenhängen.

Das Messer erweckt Angst oder auch Lust. Entsprechend dem Aufbau unserer Gesellschaft ist heute das gesellschaftliche Ritual seines Gebrauchs mehr durch die Unlust, die Angst, die es umgibt, als durch Lust bestimmt.

Die 'Tabus' die es umgeben, sind primär emotionaler Natur. Angst, Peinlichkeit, Schuld, Assoziationen und Emotionen verschiedenster Art übersteigern die wahrscheinliche Gefahr. Gerade das gibt solchen Verboten ihre eigentümliche Verfestigung in der Seele, ihren 'Tabu'-Charakter (S. 165).

Im Mittelalter geringe Messerverbote. Es ist das wichtigste Essgerät.
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Quelle: Norbert Elias: Über den Prozess der Zivilisation, Erstmals veröffentlicht 1936, Francke Verlag: 1969 2. Auflage,Suhrkamp:1976 1. Auflage,19. Auflage 1995 Exzerpt: transitenator.
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Dann mit der Andeutung auf Vorsicht, die der Gebrauch des Messers nötig mache liegt nicht nur die rationale Erwägung zugrunde, sondern vor allem die Emotion, die der Anblick oder die Vorstellung des gegen das eigene Gesicht gerichteten Messers erweckt.

Es ist die allgemeine Erinnerung und Assoziation an Tod und Gefahr, der Symbolwert des Instruments, der mit der fortschreitenden Pazifizierung der Gesellschaft zum Überwiegen der Unlustgefühle über die Lustgefühle bei seinem Anblick führt.

Der Anblick eines gegen das Gesicht gerichteten Messers erweckt Angst. "Richte nicht dein Messer gegen dein Gesicht, denn darin ist viel Schrecken." Hier ist die emotionale Basis des strengen Tabus. Ein gesellschaftliches Ritual bildet sich aus dieser Gefahr, weil sich die gefährliche Geste ganz allgemein als Unlust bringend, als Todes und Gefahrensymbol im Gefühl verfestigt.

In späteren Phasen werden rationale Erklärungen für jedes Verbot mit auf den Weg gegeben.

Zu dem Verbot Fisch mit dem Messer zu essen siehe Psychoanalyse.

Dann die Tendenz eiförmige Gegenstände nicht mit dem Messer zu zerteilen (Kartoffel oder Knödel mit dem Messer zu zerschneiden), Tendenz den Gebrauch des Messers einzuschränken.

In China ist das Messer seit vielen Jahrhunderten von der Tafel verschwunden. In China bildete seit langem nicht eine Kriegerklasse sondern eine pazifizierte Beamtengesellschaft die Oberschicht (S. 169).
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Warum ist es kannibalisch, mit den Fingern zu essen?
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Es ist nicht unhygienischer, aber es ist ein peinliches Gefühl, sich die Finger schmutzig zu machen und so in Gesellschaft gesehen zu werden.

Die primäre Instanz für unsere Entscheidung zwischen 'zivilisiertem' und 'unzivilisiertem' Verhalten bei Tisch ist unser Peinlichkeitsgefühl.

Die Gabel ist nichts anderes als die Inkarnation eines bestimmten Affekt- und Peinlichkeitsstandards.

Verhaltensweisen, die im Mittelalter nicht im mindesten als peinlich empfunden wurden, werden mehr und mehr mit Unlustempfindungen belegt. Der Peinlichkeitsstandard kommt in gesellschaftlichen Verboten zum Ausdruck.

Diese Tabus sind, soweit sich sehen lässt nichts anderes als Ritual oder Institution gewordenes Unlust-, Peinlichkeits-, Angst- oder Schamgefühl, das gesellschaftlich unter ganz bestimmten Umständen heran gezüchtet worden ist und sich dann immer wieder reproduziert, weil es sich in bestimmten Umgangsformen institutionell verfestigt hat (S. 171).

Bestimmte Verhaltensweisen werden mit Verboten belegt, nicht weil sie ungesund sind, sondern weil sie zu einem peinlichen Anblick, zu peinlichen Assoziationen führen. Dann reproduzieren sie sich immer wieder von neuem, solange die Struktur der menschlichen Beziehungen sich nicht grundlegend ändert (S. 172).

Die Unlust, die von Erwachsenen gegenüber diesem Verhalten erzeugt wird, stellt sich gewohnheitsmäßig ein, ohne dass sie ein anderer Mensch auslöst.

Dem Druck und Zwang einzelner Erwachsener gesellt sich der Druck der Umwelt hinzu und von den meisten Aufwachsenden wird relativ frühzeitig vergessen oder verdrängt, dass ihre Scham und Peinlichkeitsgefühle, ihre Lust- und Unlustempfindungen durch Druck oder Zwang von außen modelliert und auf einen gewissen Standard gebracht wurden.

Es wird zu einem inneren Automatismus, der Abdruck der Gesellschaft im Inneren, das Über-Ich, das dem Einzelnen verbietet, anders als mit der Gabel zu essen.

Der gesellschaftliche Standard, in den der Einzelne zunächst von außen, durch Fremdzwang, eingepasst worden ist, reproduziert sich schließlich in ihm mehr oder weniger reibungslos durch Selbstzwang, der bis zu einem gewissen Grade arbeitet, auch wenn er es in seinem Bewusstsein nicht wünscht.

Auf diese Weise vollzieht sich also der geschichtlich-gesellschaftliche Prozess von Jahrhunderten, in dessen Verlauf der Standard der Scham- und Peinlichkeitsgefühle langsam vorrückt, im einzelnen Menschen in abgekürzter Form immer wieder (S. 174).

Fleisch Esser, Tier-Leichen hinter die Kulisse, Hamburger, Seelen-Aufbau zt-32

Was immer wir auch an menschlichen Erscheinungen, losgelöst vom gesellschaftlichen Leben der Menschen betrachten, es ist Substanzialisierung der menschlichen Beziehungen und des menschlichen Verhaltens, es ist Gesellschafts- und Seeleninkarnat.

Das gilt von der Sprache, Kunst, Wissenschaft, Wirtschaft, Politik für hochrangige Erscheinungen unseres Lebens etc.

Scheinbar unbeträchtliche Erscheinungen geben über Aufbau und Entwicklung der 'Seelen' und ihrer Beziehungen oft klare und einfache Aufschlüsse. Zum Beispiel das Verhältnis der Menschen zur Fleischnahrung.

Im Mittelalter gibt es drei verschiedene Verhaltensweisen zur Fleischkost. Extreme Uneinheitlichkeiten des Verhaltens sind charakteristisch für diese Zeit.
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Quelle: Norbert Elias: Über den Prozess der Zivilisation, Erstmals veröffentlicht 1936, Francke Verlag: 1969 2. Auflage,Suhrkamp:1976 1. Auflage,19. Auflage 1995 Exzerpt: transitenator.
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Bestimmte Verhaltensweisen in einer Schicht oft über das ganze Abendland hin, während andere Verhaltensweisen in anderer Schicht. Daher sind die Unterschiede im Verhalten zwischen verschiedenen Ständen der gleichen Region oft größer, als die zwischen regional getrennten Vertretern der gleichen Schicht. Abgeschlossenheit der Stände (S. 158).

Das Verhältnis zur Fleischnahrung zwischen den Polen des außerordentlichen Verbrauchs in der Oberschicht und des Verzichts z.B in Klöstern oder der Unterschicht. Vieh ist wertvoll und für die Herrentafel bestimmt. Arme Ritter mit ähnlichem Standard wie Bauern. Gewürze spielen eine große, Gemüse eine verhältnismäßig geringe Rolle.

Genauer belegbar ist die Art, wie das Fleisch aufgetragen wird. Die ändert sich vom Mittelalter zur Neuzeit hin beträchtlich. Im Mittelalter kommt bei der Oberschicht das tote Tier als Ganzes auf den Tisch und das Tier wird auf der Tafel zerlegt.

Das Zerlegen und das Austeilen bei Tisch ist eine besondere Ehre. Allmählich hört im 17. Jahrhundert das Zerlegen des Tieres bei der Tafel auf. Faktoren dafür die allmähliche Verkleinerung des Haushaltes, die Aussonderung von Erzeugungs- und Verarbeitungsaufgaben (Weben, Spinnen, Schlachten..) aus dem Haushalt und deren Übergang an Spezialisten (Handwerker, Kaufleute, Fabrikanten). Der Haushalt wird im wesentlichen zu einer Verbrauchseinheit.

Dem Zuge des großen Gesellschaftsprozesses entspricht auch hierin der Zug des Seelischen. Heute ist der Anblick von ganzen toten Tieren in Fleischerläden in den U.S.A. und West-Europa peinlich.

Vorschübe der Peinlichkeitsschwelle. Schübe dieser Art führten in der Vergangenheit zu Standardveränderungen.

Die Richtung ist ganz klar. Von jenem Standard des Empfindens, bei dem der Anblick der erschlagenen Tiere auf der Tafel und sein Zerlegen unmittelbar als lustvoll, jedenfalls ganz und gar nicht als unangenehm empfunden wird, führt die Entwicklung zu einem anderen Standard, bei dem manfrau die Erinnerung daran, dass das Fleischgericht etwas mit einem getöteten Tier zu tun hat, möglichst vermeidet.

Bei unseren Fleischgerichten wird durch die Kunst der Zubereitung die tierische Form verdeckt. (Chicken Mc Nuggets).

Es wird noch gezeigt werden, wie die Menschen im Laufe der Zivilisationsbewegung alles das zurück zu drängen suchen, was sie an sich selbst als 'tierische Charaktere' empfinden (S. 162).

Das stärkere Verlegen des Peinlichen aus der Sicht der Gesellschaft gilt auch für das Zerlegen des ganzen Tieres. Dieses Zerlegen gehörte im Mittelalter zum gesellschaftlichen Leben der Oberschicht.

Dann wird der Anblick mehr und mehr als peinlich empfunden. Das Peinliche wird hinter die Kulissen des gesellschaftlichen Lebens verlegt.

Charakteristisch diese Figur des Aussondern, dieses 'Hinter die Kulisse Verlegen' des peinlich Gewordenen für den ganzen Vorgang dessen, was wir 'Zivilisation' nennen.

Die Kurve: Zerlegen großer Tiere an der Tafel, Vorrücken der Peinlichkeitsschwelle gegenüber dem Anblick toter Tiere, Verlagerung des Zerlegens hinter die Kulissen in spezialisierte Enklaven ist typisch für okzidentelle Zivilisation. (In China geschah das schon viel früher).

Rationale Einsicht ist nicht Motor der Zivilisation zt-30

Die Peinlichkeitsschwelle (nicht in erster Linie die Hygiene-Einsicht) rückt sichtlich voran. Im Zusammenhang mit einer ganz bestimmten gesellschaftlichen Situation wandelt sich Empfinden und Affektlage zunächst in der Oberschicht, und der Aufbau der Gesamtgesellschaft lässt diesen veränderten Affektstandard sich langsam über die Gesellschaft hin ausbreiten.

Nichts weist auf Gründe, die wir als klare, rationale Gründe bezeichnen, aus der beweisbaren Einsicht in bestimmte Kausal-Verknüpfungen.

Ein großer Teil der Tabus hat mit 'Hygiene' nicht das mindeste zu tun, sondern vielmehr mit dem 'peinlichen Gefühl', dem Peinlichkeitsempfinden. Es ändert sich die Affektlage, die Sensibilität, die Empfindlichkeit und das Verhalten der Menschen.

Dann wird an einem bestimmten Punkt dieses Verhalten als 'hygienisch richtig' erkannt, es wird durch klarere Einsicht in die kausalen Zusammenhänge gerechtfertigt und in die gleiche Richtung vorangetrieben (S. 155).

Aber die 'rationale Einsicht' ist nicht der Motor der 'Zivilisation' des Essens oder anderer Verhaltensweisen.
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Quelle: Norbert Elias: Über den Prozess der Zivilisation, Erstmals veröffentlicht 1936, Francke Verlag: 1969 2. Auflage,Suhrkamp:1976 1. Auflage,19. Auflage 1995 Exzerpt: transitenator.
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Gerade die Parallele zwischen der Zivilisierung des Essens und der des Sprechens ist in dieser Hinsicht recht lehrreich. Sie macht deutlich, dass die Veränderung des Verhaltens beim Essen Teil einer sehr umfassenden Wandlung der menschlichen Empfindungen und Haltungen ist.

Sie veranschaulicht zugleich, in welchem Maße die Antriebe dieser Entwicklung aus dem gesellschaftlichen Aufbau, aus der Integrations- oder Beziehungsform der Menschen kommen.

Relativ kleine Kreise bilden zunächst das Zentrum der Bewegung, dann geht der Prozess auf andere weitere Schichten über. Diese Ausbreitung hat eine bestimmte Struktur, die Gesellschaft zur Voraussetzung.

Sie hätte sich nicht vollziehen können, wenn sich nicht eine gesellschaftliche Situation hergestellt haben würde, die ein Vorrücken der Peinlichkeitsschwelle möglich und erforderlich gemacht hätte.

Der Prozess ähnelt einer Kristallisierung, aber nichts wäre falscher, als den Kristallisationskern selbst für die Ursache der Umlagerung zu halten.

Die Ausbreitung hat selbst bereits eine besondere Lage und einen besonderen Aufbau der Gesamtgesellschaft zur Voraussetzung. Der eine Kreis hat die Funktion Modelle zu schaffen, der andere sie auszubreiten (S. 157).

Höfische Modellierung des Sprechens, Sprache-, Sozial-,-Entwicklung zt-29

Auch für das Sprechen bildet ein begrenzter Kreis von Menschen gewisse Standards heraus.

In Frankreich spricht die höfische Gesellschaft eine andere Sprache als die Bourgeoisie. (Ähnlich wie in Deutschland). Vieles von dem was im 17. zum Teil noch im 18. Jahrhundert unterscheidende Ausdrucksform und Sprache der höfischen Gesellschaft ist, wird allmählich französische Nationalsprache.

Wie bei den Umgangsformen gibt es eine Art von Doppelbewegung: Verhöflichung bürgerlicher Menschen, Verbürgerlichung höfischer Menschen oder genauer: bürgerliche werden durch das Verhalten höfischer Menschen, höfische durch das Verhalten bürgerlicher Menschen beeinflusst.

Die Beeinflussung von unten ist im 17. Jh viel schwächer als im 18.

Der Reichtum der bürgerlichen Spitzenschichten zwingt oben zum Wettbewerb. Und der unablässige Zustrom bürgerlicher Menschen in den höfischen Kreis (in Frankreich) schafft auch im Prozess des Sprechens eine spezifische Bewegung: er trägt den Slang der Bougeoisie in den höfischen Kreis.

Fast in allen Fällen ist in der Tat die höfische Sprachform zur nationalen geworden.
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Quelle: Norbert Elias: Über den Prozess der Zivilisation, Erstmals veröffentlicht 1936, Francke Verlag: 1969 2. Auflage,Suhrkamp:1976 1. Auflage,19. Auflage 1995 Exzerpt: transitenator.
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Die Sprache ist eine der zugänglichsten Manifestationen dessen, was wir als 'National-Charakter' empfinden.

Eine entscheidende Prägestation der französischen Sprache war der Hof und die höfische Gesellschaft.

Für die deutsche Sprache hat eine Zeit lang die kaiserliche Kammer und Kanzlei eine verwandte (aber nicht so intensive) Rolle gespielt. Dann waren es vor allem die Universitäten, die für die deutsche Bildung und Sprache annähernd die gleiche Bedeutung erlangten wie in Frankreich der Hof.

Kanzlei und Universität (Fachbeamte) beeinflussten weniger das Sprechen, als das Schreiben; sie formten nicht durch die Unterhaltung, sondern durch Akten, Briefe und Bücher die deutsche 'Schriftsprache' und waren die Prägestation des Sprachstroms.

Wonach beurteilst eigentlich Du, was gut und schlecht in der Sprache ist?

Elias: Redewendungen, Worte und Nuancierungen sind (sozial-im Umgang mit anderen Menschen) gut, weil die soziale Elite, sich ihrer bedient, und sie sind schlecht, weil die sozialen Niedrigerstehenden in dieser Form sprechen (S. 150).

Die rationale Begründung hat die soziale Begründung, dass etwas besser sei, weil es Gebrauch der Oberschicht sei hat bei weitem den Vorrang.

Die Art, wie die Sprache sich entwickelt und geprägt wird, entspricht einer bestimmten Art des gesellschaftlichen Aufbaus.

In der französischen Sprache bleibt der Durchgang durch eine höfisch-aristokratische Phase spürbar. In der deutschen Sprache bleibt der Durchgang durch eine gelehrte- mittelständische Intelligenzschicht spürbar.

Zu der Frage, wie die Menschen es begründen, dass dies 'schlechtes' und jenes 'gutes' oder 'besseres' Benehmen sei:

Die Sprache ist eine der Verkörperungen des Gesellschafts- oder Seelenlebens. Sprache ist nichts als Laut (Anm.: hörbares, verstehbares Geräusch) gewordene menschliche Beziehung (S. 157).

Rationale Begründungen des Zivilisationsprozesses wie z.B. Veränderung des Essens aus 'hygenischen Gründen' stehen zum mindesten sehr im Hintergrund.

In den Begründungen der Zurückhaltung heißt es meistens: Tue das und jenes nicht, denn es ist nicht courtois, nicht höfisch, ein edler Mann tut so was nicht.

Allenfalls Begründung mit Rücksichtnahme auf das Peinlichkeitsgefühl der anderen. Später: Lass das, es ist nicht Civil. Die gesellschaftlichen Motivierungen, das Ausrichten des Verhaltens nach den Modellen der tonangebenden Kreise hat bei weitem den Vorrang (S. 153).

Die 'Delikatesse', diese Sensibilität und das besonders entwickelte Gefühl für 'Peinliches', ist unterscheidendes Merkmal kleiner höfischer Kreise, dann der höfischen Gesellschaft. Worauf sie sich gründet, wird nicht gesagt und nicht gefragt.

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