Fehlende Identifizierung mit der Oberschicht und gutes Benehmen zt-25
Tweet this!In Deutschland gibt es von der Zeit der Humanisten an immer eine bürgerliche Intelligenz, die von der höfisch-aristokratischen Gesellschaft getrennt lebt.
Hier sind die sozialen Mauern zwischen Bürgertum und höfischem Adel verhältnismäßig hoch. Erst in der zweiten Hälfte des 18. Jhs. hört man wieder die Sprache und Ausdrücke eines Selbstbewusstseins, das dem der Humanisten, besonders dem des Erasmus verwandt ist.
Entfaltung der deutschen Städte war am Ausgang des Mittelalters, dann Schrumpfungen.
Im Gegensatz zu Frankreich ist die völlige Identifizierung der Intelligenz mit der höfischen Oberschicht schwächer und seltener.
Die Haltung des Erasmus distanziert sich, es fehlt die Identifizierung mit der Oberschicht und das verbindet ihn mit der späteren deutschen Intelligenz. Das Maß der Distanzierung die Erasmus besitzt, weist auf eine Phase der Lockerung zwischen zwei Epochen, die durch festere Gesellschaftshierarchien charakterisiert ist (S. 99).
Die Tradition der 'courtoisie' wird in vielem von der Gesellschaft, die den Begriff der 'civilitas' zur Bezeichnung des gesellschaftlichen 'guten Benehmens' wählt weitergeführt. Die verstärkte Neigung der Menschen, sich und andere zu beobachten, ist eines der Anzeichen dafür, wie nun die ganze Frage des Verhaltens einen anderen Charakter erhält.
Die Menschen formen sich und andere mit größerer Bewusstheit als im Mittelalter. Der Zwang, den die Menschen aufeinander ausüben, wird stärker, die Forderung nach 'gutem Benehmen' nachdrücklicher erhoben. Der ganze Problemkreis des Verhaltens gewinnt an Wichtigkeit (S. 102).
Die alten sozialen Verbände sind, wenn nicht zerbrochen, so doch in hohem Maße aufgelockert, und in Umbildung begriffen. Die gesellschaftliche Zirkulation, Auf- und Abstieg vollziehen sich rascher.
Langsam im Laufe des 16. Jhs. beginnt sich eine festere Gesellschaftshierarchie herzustellen und, aus Elementen verschiedener sozialer Herkunft, eine neue Oberschicht, eine neue Aristokratie heraus zu bilden.
Der veränderte Aufbau der neuen Oberschicht setzt den Einzelnen einem Druck und einer Kontrolle der anderen aus. In diese Situation hinein ist die Schrift des Erasmus geschrieben.
Die Menschen, gezwungen in einer neuen Form miteinander zu leben, werden empfindlich für die Regungen anderer. Allmählich wird der Code des Verhaltens strenger und die Rücksichtnahme größer.
Das Wachstum der Empfindlichkeit, die Intensivierung der Menschenbeobachtung und das stärkere Verständnis für das, was in dem anderen selbst vor sich geht, sind unverkennbar (S. 104).
"Sieh anderen ihre Verstöße leicht nach. Das ist eine Haupttugend der civilitas (der Höflichkeit)". Erasmus identifiziert sich nur wenig mit der höfischen Oberschicht und bewahrt eine innere Distanz.
Die Wichtigkeit, die man nun dem 'guten Benehmen' beizumessen beginnt zeigt vor allem auch, wie der Druck, den die Menschen in dieser Richtung aufeinander ausüben sich verstärkt.
Die gesellschaftliche Kontrolle wird bindender. Vor allem ändert sich langsam die Art und der Mechanismus der Affektmodellierung durch die Gesellschaft. Im Laufe des Mittelalters hat sich offenbar der Standard der Sitten und Unsitten bei allen regionalen und sozialen Verschiedenheiten nicht entscheidend gewandelt.
Jetzt mit dem Umbau der Gesellschaft, mit einer neuen Anlage der menschlichen Beziehungen, tritt hier langsam eine Änderung ein: Der Zwang zur Selbstkontrolle wächst. Damit gerät der Standard des Verhaltens in Bewegung (S. 106).
Das 16. Jh. steht noch ganz im Übergang. Bei Erasmus noch ganz die alte Unbefangenheit im Besprechen der körperlichen Verrichtungen, die für den mittelalterlichen Menschen charakteristisch war, aber bereichert durch Beobachtungen, durch die Rücksicht auf das, was andere denken könnten.
Die Menschen dieser Zeit haben ein Doppelgesicht. Bei der Betrachtung fehlt das sichere Maß.
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Quelle: Norbert Elias: Über den Prozess der Zivilisation, Erstmals veröffentlicht 1936, Francke Verlag: 1969 2. Auflage,Suhrkamp:1976 1. Auflage,19. Auflage 1995
Exzerpt: transitenator
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Elias kommentiert seine Vorgangsweise: Man muss Bild an Bild reihen, um von einer bestimmten Seite her den Prozess, die allmähliche Verwandlung der Verhaltensweisen und der Affektlage, das Vorrücken der Peinlichkeitsschwelle im Zusammenhang zu übersehen. Also in einer Art Zeitraffer das Ganze überblicken.
Das empirische Material von Elias sind die Manierenbücher und anhand deren werden die Verhaltensweisen geprüft. Die Verhaltensweisen, die jeweils eine Gesellschaft von ihren Mitgliedern erwartete, und auf die sie den Einzelnen zu konditionieren suchte. Verhaltensweisen werfen etwas Licht auf Vorgänge im Prozess der Gesellschaft. Sie zeigen Standards von Gebräuchen an die die Gesellschaft den Einzelnen zu gewöhnen suchte.
Die Manierenschriften und -sprüche sind Instrumente der Konditionierung (Fassonierung), der Einpassung des Einzelnen an jene Verhaltensweisen, die der Aufbau und die Situation seiner Gesellschaft erforderlich machte (S. 109).
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