20070630

Norbert Elias Prozess d. Zivilisation

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Literatur und Quellenhinweis: Norbert Elias: Über den Prozess der Zivilisation; Band 2 Erstmals veröffentlicht 1936; Francke Verlag: 1969 2. Auflage; Suhrkamp: 1976 1. Auflage; 19. Auflage 1995; Ausgewählte Quoten, Gestaltung & Anmerkungen: Transitenator
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Im Zentrum der Untersuchungen von Elias (1936) stehen Verhaltensweisen, die manfrau als typisch für die abendländisch zivilisierten Menschen ansieht. In den vergangenen Perioden der abendländischen Geschichte haben wir es nicht mit Gesellschaften zu tun, die in dem gleichen Maße 'zivilisiert' sind, wie die abendländische Gesellschaft von heute. Wie ging die Veränderung, diese Zivilisation im Abendlande eigentlich vor sich? Worin bestand sie? Und welches waren ihre Antriebe, ihre Ursachen und ihre Motoren? Das sind die Hauptfragen. Es soll der Weg zum Verständnis der psychischen Prozesse in der Zivilisation offen gelegt werden. Die Veränderungen des psychischen Habitus werden durch eine Prüfung des geschichtlichen Erfahrungsmaterials betrachtet. Der spezifische Prozess des psychischen Erwachsenwerdens ist nichts anderes, als der individuelle Zivilisationsprozess, dem jeder Heranwachsende in den zivilisierten Gesellschaften als Folge des jahrhundertelangen, gesellschaftlichen Zivilisationsprozesses, mit mehr oder weniger Erfolg unterworfen wird. Die soziogenetische und psychogenetische Untersuchung zielt darauf hin, die Ordnung der geschichtlichen Veränderungen, ihre Mechanik und ihre konkreten Mechanismen aufzudecken. Die Zusammenfassung im zweiten Band von Elias' 'Prozess der Zivilisation' nämlich der Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation unterstreicht noch einmal diese Zusammenhänge zwischen den Wandlungen im Aufbau der Gesellschaft und den Wandlungen des Verhaltens und des psychischen Habitus.


Elias hat 1968 diesem Werk eine längere Einleitung voraus gefügt, in welcher er die Soziologie des 20. Jahrhunderts kritisiert, dass sie sich vor allem auf Zustände und einem unspezifischen "sozialen Wandel" konzentriere. Elias ist aber kein Verfechter einer Evolution im Sinne des 19. Jahrhunderts. Der erste Band beschäftigt sich vor allem mit der Frage, ob (die auf verstreuten Beobachtungen beruhende Vermutung stimmt, dass) es langfristige Wandlungen der Affekt- und Kontrollstrukturen von Menschen bestimmter Gesellschaften gibt, die über eine Reihe von Generationen gehen. Betrachtet wird die Affektivität des Verhaltens (Affektkontrollen, die Regelung der individuellen Affekte durch Fremd- und Selbstzwänge), also die Veränderung von Persönlichkeitsstrukturen und die gleichzeitige verlaufende Gesamttransformation von Gesellschaften. Die Frage mit der sich der zweite Band beschäftigt: Ist es möglich, diese langfristige Wandlung der Persönlichkeits Strukturen mit langfristigen gesamtgesellschaftlichen Strukturwandlungen die ebenfalls in eine bestimmte Richtung gehen in Zusammenhang zu bringen? Im zweiten Band wird auch der Staatsbildungsprozess untersucht, sowie ein Entwurf einer Theorie der Zivilisation gezeichnet.


Elias untersucht das Problem des Zusammenhangs von individuellen psychischen Strukturen (Persönlichkeitsstrukturen) und von Sozialstrukturen. Diese beiden Strukturtypen sind nicht unwandelbare Strukturen sondern vielmehr sich wandelnde, interdependente Aspekte der gleichen langfristigen Entwicklung. Der entscheidende Unterschied des wissenschaftlichen Vorgehens und in der Vorstellung von den Aufgaben einer soziologischen Theorie zwischen Parsons und Elias: Das was sich bei Elias als Prozess erweist wurde von Parsons durch statische Begriffsbildungen auf Zustände reduziert.


Elias frägt, warum sich diese hoch entwickelte Gesellschaft zu diesem Stand der Differenzierung hin entwickelt hat. Die statischen Bezugsrahmen der vorherrschenden Systemtheorien lassen soziale Prozesse als etwas Zusätzliches erscheinen. Wie ist es zu erklären, dass für die Soziologie des 19. Jahrhunderts die langfristigen gesellschaftlichen Prozesse im Vordergrund des Forschungsinteresses standen und dass die Soziologie des 20. Jahrhunderts zu einer Zustandssoziologie geworden ist? Das Modell der langfristigen Gesellschaftsentwicklung folgt einer Art von heraklitischer Grundvorstellung- alles fließt während das Modell der Zustände von einer Art eleatischen Grundvorstellung (Flug des Pfeils als eine Serie von Ruhezuständen) geprägt ist.


Welche gedanklichen Modelle haben Bedeutung die -unabhängig von ihren Idealen- allein im Hinblick auf belegbare und nachprüfbare Sachzusammenhänge Bedeutung haben? Es geschehen spezifische Wandlungen in der Vorstellungswelt und dem Denkstil! Die Vorstellung von dem einzigartigen Wesen und Wert der eigenen Nation dient hier oft als Legitimation für den Führungsanspruch der eigenen Nation in der Gesamtheit der Völker.


Im 18. u. 19. Jahrhundert wurde Gesellschaft gedacht als 'bürgerliche Gesellschaft', also Aspekt des Zusammenlebens der Menschen die jenseits der staatlichen Aspekte zu liegen scheinen. viele Soziologen des 20. Jahrhunderts., wenn sie von Gesellschaft sprechen, nicht mehr wie ihre Vorgänger, von der bürgerlichen Gesellschaft oder einer menschlichen Gesellschaft jenseits der Staaten, sondern haben das verdünnte Idealbild eines Nationalstaates vor Augen. Gesellschaft also als etwas, das von der Realität des Nationalstaates abstrahiert wird. Da im Laufe des 20. Jahrhunderts die amerikanische Soziologie bei der Weiterentwicklung der theoretischen Soziologie eine Zeit lang eine führende Rolle übernimmt, so findet man entsprechend dem spezifischen Charakter des vorherrschenden amerikanischen Nationalideals, die gleiche Tendenz in dem herrschenden Theorietyp der Zeit (konservative und liberale Züge sind nicht strikt getrennt).


Kritik von Elias an Parsons Begriff des 'sozialen Systems'. Nach Parsons ist 'ein soziales System' eine Gesellschaft im Gleichgewicht. Gesellschaft ist normalerweise im Zustand der Ruhe. Alle zugehörigen Individuen sind durch die gleiche Art der Sozialisierung auf die gleichen Normen abgestimmt. Alle sind normalerweise wohl integriert, folgen in ihren Handlungen den gleichen Werten, füllen die Rollen aus und Konflikte kommen normalerweise nicht vor. Das was manfrau wünscht, wird mit sachlichen Beobachtungen unter mischt und als Tatsache hingestellt zu einem Gemisch von Sein und Sollen, von Sachanalysen und normativen Postulaten. Die Untersuchungen von Elias sollen auf die Möglichkeit hinweisen, das Studium der Gesellschaft aus der Knechtschaft der gesellschaftlichen Ideologien zu befreien.


Ist es gerechtfertigt eine scharfe Scheidelinie zwischen dem menschlichen 'Inneren' und einer 'Außenwelt' des Menschen zugrunde zu legen? Manfrau findet die Vorstellung vom 'Selbst im Gehäuse' bereits in der platonischen Philosophie, dann beim 'denkenden Ich' des Descartes, bei Leibniz' 'fensterlosen Monaden', beim Kantschen 'Subjekt der Erkenntnis', das nie so recht zum 'Ding an sich' vorzudringen vermag etc. Entfremdung als Ausdruck der Selbsterfahrung. Das Menschenbild des homo clausus. Wissenschaftliche Denkweisen können nicht entwickelt und können nicht Gemeingut werden, ohne dass Menschen sich von der primären Selbstverständlichkeit lösen, mit der sie alles Erfahrene zunächst unreflektiert und spontan aus seinem Zweck und Sinn für sich selbst zu verstehen suchen.


Der Übergang von einer zentral durch einen herkömmlichen Glauben legitimierten zu einer auf wissenschaftlicher Forschung beruhenden Naturerkenntnis und der Schub in der Richtung größerer Affektkontrollen, den dieser Übergang einschloß, stellte also einen Aspekt des im folgenden von andern Seiten her untersuchten Zivilisationsprozesses dar. Die Distanzierung des Denkenden von seinen Objekten im Akt des erkennenden Denkens und die Affektzurückhaltung, die sie erforderte stellt nicht als solche einen Akt der Distanzierung dar, sondern eine tatsächliche Distanz, als ein ewiger Zustand der räumlichen Trennung eines scheinbar im Inneren verborgenen Denkapparates, eines 'Verstandes', einer 'Vernunft', die durch unsichtbare Mauern von den Objekten 'draußen' abgetrennt ist. Die Verwandlung zwischenmenschlicher Fremdzwänge in einzelmenschliche Selbstzwänge führt dazu, dass viele Affektimpulse weniger spontan auslebbar sind. Was gibt nun eigentlich zu dieser Vorstellung eines 'Inneren' des Einzelmenschen Anlass, was ist die Kapsel, was ist das Abgekapselte?


Eine Kritik des neuzeitlichen Menschenbildes ist notwendig, um den Prozess der Zivilisation zu verstehen. Die Vorstellung von den absolut unabhängig voneinander entscheidenden, agierenden und 'existierenden' Einzelwesen, ist ein Kunstprodukt der Menschen, das für eine bestimmte Stufe in der Entwicklung ihrer Selbsterfahrung charakteristisch ist. Es beruht zum Teil auf einer Verwechslung von Ideal und Tatsache, zum Teil auf einer Verdinglichung der individuellen Selbstkontrollapparaturen und der Absperrung individueller Affektimpulse von der motorischen Apparatur. Diese Selbsterfahrung der eigenen Vereinzelung, der unsichtbaren Mauer, die das eigene 'Innen' von allen Menschen und Dingen 'draußen' absperrt, gewinnt im Laufe der Neuzeit für eine große Anzahl von Menschen die gleiche unmittelbare Überzeugungskraft, wie im Mittelalter die Überzeugung, dass die Erde der Mittelpunkt der Welt wäre. Es ist eine offene Frage, wie weit das Gefühl der Vereinzelung und Entfremdung auf Ungeschick und Unwissenheit bei der Entwicklung individueller Selbstkontrollen zurückgeht. Nach Elias ist Gesellschaft weder eine Abstraktion von Eigentümlichkeiten gesellschaftslos existierender Individuen, noch ein System oder eine 'Ganzheit' jenseits der Individuen, sondern vielmehr das von Individuen gebildete Interdependenzgeflecht selbst.


Der Begriff 'Zivilisation' bezieht sich auf verschiedene Fakten: Stand der Technik, Art der Manieren, wissenschaftliche Erkenntnis, religiöse Ideen und Gebräuche, Art des Wohnens u. Zusammenlebens, gerichtliche Bestrafung, Zubereitung des Essens, etc. Prüfen und fragen: Was ist die allgemeine Funktion des Begriffes Zivilisation, wann ist etwas zivilisiert, wann schätzen wir etwas als zivilisiert ein? Dieser Begriff bringt das Selbstbewusstsein des Abendlandes zum Ausdruck, das Nationalbewusstsein. Er unterscheidet von früheren 'primitiveren' Gesellschaften. Kultur' ist das Wort durch das man im Deutschen sich selbst interpretiert. 'Kulturell' bezeichnet Wert und Charakter bestimmter menschlicher Produkte. 'Kultiviert' steht wiederum dem Zivilisationsbegriff nahe und bezeichnet Formen des Verhaltens oder Gebarens von Menschen.


Norbert Elias vermutet im ersten Band von 'Prozess der Zivilisation', dass es Kant gewesen sei, der einer bestimmten Erfahrung und Antithese seiner Gesellschaft zuerst in verwandten Begriffen Ausdruck gab.


Nach dem 30 jährigen Krieg ist Deutschland entvölkert und wirtschaftlich erschöpft. Verglichen mit Frankreich und England ist Deutschland und vor allem das deutsche Bürgertum im 17. u. 18. Jahrhundert arm, der Fernhandel ist verfallen und die Vermögen verstreut.

Dieses deutsche Bürgertum der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts spricht eine andere Sprache als der König. Ideale und Geschmack der bürgerlichen Jugend und die Modelle nach denen sie sich verhalten, sind den seinen fast entgegengesetzt. Goethe und Lessing haben den Geschmack des Volkes weit mehr für sich als die französischen Klassiker.


Das wichtigste Präge- und Ausstrahlungszentrum der deutschen Mittelstandskultur war die Universität. Von ihr werden die Ideen ins Land getragen. Die deutsche Universität, war gewissermaßen das mittelständische Gegenzentrum des Hofes


Die Durchdringung bürgerlicher Kreise mit spezifisch aristokratischem Traditionsgut hatte in Frankreich ganz andere Ausmaße. Höfisches Bürgertum und höfische Aristokratie sprachen die gleiche Sprache, lasen die gleichen Bücher, hatten gleiche Manieren. Als das 'ancien régime' gesprengt wurde, als das Bürgertum zur Nation wurde, wurde vieles von dem was im Ursprunge spezifisch höfisch war zum Nationalcharakter.


Der Physiokratismus ist einer der theoretischen Ausdrücke von Fraktionskämpfen. Er ist ein nicht nur ökonomisches sondern ein groß angelegtes politisches und soziales Reformsystem (Turgot). Auf der anderen Seite die Merkantilisten (Forbonnais). In der Debatte zwischen diesen Fraktionen kommt bereits die Differenz innerhalb der modernen, industriellen Gesellschaft zu einem frühen Ausdruck, die Differenz zwischen stärker freihändlerischen und stärker protektionistischen Interessengruppen. Beide gehören zu der mittelständischen Reformbewegung.


Das Wirtschaftsleben der Gesellschaft wird als ein mehr oder weniger selbsttätiger Prozess, als ein geschlossener Kreislauf von Produktion, Zirkulation und Reproduktion der Güter dargestellt. Die Entwicklungsgänge der Wirtschaft, der Bevölkerung, schließlich der gesamten Gesittung werden als ein großer Zusammenhang betrachtet, das alles als ein großer Kreislauf, ein ständiges Auf und Ab. Quesnay spricht von natürlichen Gesetzen des Zusammenlebens im Einklang mit der Vernunft.


Ein Ausdruck und Spiegelbild dieser Reformideen ist der Begriff 'civilisation' der zunächst Ausdruck für die spezifische Hellsicht des Oppositionellen, des Gesellschaftskritikers ist. Auch das 'Zivilisiert-Sein' wird als Ausdruck eines Kreislaufs erkannt. Das ist der Sinn des Wortes 'Zivilisation' in diesem frühen Stadium seines Gebrauchs. Nach Mirabeau steht die echte Zivilisation im Kreislauf zwischen der Barbarei und der falschen der 'dekadenten' Zivilisation, die durch einen Überfluss an Geld erzeugt wird. Es gilt auf einer mittleren Linie zwischen Barbarei und Dekadenz durch zu steuern. Ein Gedeihen der Gesellschaft zwischen diesen beiden Positionen.

Im zweiten Kapitel seines 'Prozesses der Zivilisation' geht Norbert Elias auf 'Zivilisation' als einer spezifischen Änderung des menschlichen Verhaltens ein. Erasmus von Rotterdam wird als 'Zeitzeuge' aufgerufen und als Propagator eines Zivilisationsbegriffes erkannt. Der Begriff 'civilité' erhielt seine Bedeutung für die abendländische Gesellschaft in jener Zeit, in der die Rittergesellschaft und die Einheit der katholischen Kirche zerbrach. Er ist die Inkarnation einer Gesellschaft, die als Station der abendländischen Gesittung oder 'Zivilisation' so wichtig wurde wie zuvor die Feudalgesellschaft. Ausgangspunkt: 16. Jahrhundert Schrift von Erasmus von Rotterdam : 'De civilitate morum puerilium', 1530. Sie behandelte offenbar ein Thema, über das zu reden an der Zeit war. Erasmus gab dem alt bekannten und oft gebrauchten Wort 'civilitas' durch seine Schrift einen neuen Impuls.


In der Schrift des Erasmus von Rotterdam zeichnet sich eine bestimmte Art des gesellschaftlichen Verhaltens ab. War er der erste, der sich mit solchen Fragen beschäftigte? Keineswegs! Wo immer manfrau beginnt, ist Bewegung, ist etwas, das vorausging. Das Mittelalter hat eine Fülle von Mitteilungen. Essen und Trinken standen noch in ganz anderem Maße im Mittelpunkt des geselligen Lebens als heute. Verhaltensvorschriften der Kleriker bzw. der Klerikergesellschaft dann Zeugnisse aus dem Umkreis der ritterlich-höfischen Gesellschaft.


Der mittelalterliche Standard war ganz gewiss kein 'Anfang' oder eine 'unterste Stufe' des Prozesses der 'Zivilisation'. Es war ein anderer Standard als unserer. Und uns interessiert der kleine Weg vom Standard des Mittelalters zum Standard der frühen Neuzeit und zu verstehen, was da eigentlich mit dem Menschen vorging. Der Standard des guten Benehmens im Mittelalter ist durch den Begriff 'courteoisie' repräsentiert. Dieser Inbegriff des Selbstbewusstseins hieß im englischen courtesy, im italienischen cortezia, im deutschen hövescheit, hübescheit, zuht.


Vom 16. Jahrhundert ab kommt die Gabel von Italien her zunächst in Frankreich, dann England und Deutschland als Essinstrument in Gebrauch. Die Höflinge Heinrich III. wurden zuerst wegen ihrer 'affektierten' Art zu essen verspottet.


Die Manierenschriften der Humanisten bilden gewissermaßen die Brücke zwischen denen des Mittelalters und denen der neueren Zeit. Auch die Schrift des Erasmus, Gipfelpunkt in der Reihe der humanistischen Manierenschriften hat dieses Doppelgesicht. Sie steht in vielem durchaus im Zuge der mittelalterlichen Tradition. Aber zugleich sind in ihr offenbar Ansätze zu etwas Neuem enthalten. Mit ihr entwickelt sich allmählich jener Begriff, der den ritterlich-feudalen Begriff von Höflichkeit in den Hintergrund drängte.

Die Haltung des Erasmus distanziert sich, es fehlt die Identifizierung mit der Oberschicht und das verbindet ihn mit der späteren deutschen Intelligenz. Das Maß der Distanzierung die Erasmus besitzt, weist auf eine Phase der Lockerung zwischen zwei Epochen, die durch festere Gesellschaftshierarchien charakterisiert ist. Die Tradition der 'courtoisie' wird in vielem von der Gesellschaft, die den Begriff der 'civilitas' zur Bezeichnung des gesellschaftlichen 'guten Benehmens' wählt weitergeführt. Die verstärkte Neigung der Menschen, sich und andere zu beobachten, ist eines der Anzeichen dafür, wie nun die ganze Frage des Verhaltens einen anderen Charakter erhält.


Elias präsentiert nun sein empirisches Material über das Verhalten beim Essen, teilt einige Gedanken zu den Zitaten über die Tischgebräuche und gibt einen Überblick über die Gesellschaften, zu denen die zitierten Schriften sprachen. Keine einzelnen Menschen haben die Essensgebote ihrer Zeit erfunden. Die Manierenschriften des 16. Jahrhunderts sind Verkörperungen der neuen höfischen Aristokratie, aus Elementen verschiedener sozialer Herkunft. Menschen die in dem Modell gebenden Kreis selbst leben, brauchen keine Bücher, um zu wissen, wie 'manfrau' sich benimmt.


Als 'Courtoisie' bezeichnete manfrau ursprünglich die Verhaltensform der größeren, ritterlichen Feudalherren. Es kam auch in bürgerlichen Kreisen in Gebrauch. Mit dem langsamen Absterben des ritterlich-feudalen Kriegeradels und der Herausbildung einer neuen absolutistisch-höfischen Aristokratie im Laufe des 16. u. 17. Jahrhunderts wird langsam der Begriff 'Civilité' hoch getragen. Courtoisie kommt im Laufe des 17. Jahrhunderts aus der Mode. 'Courteoisie' erscheint jetzt geradezu als ein bourgoiser Begriff.


In der Zeit bis zum 15. Jahrhundert bleibt der Standard der Esstechnik, der Grundstock des gesellschaftlich Verbotenen und Erlaubten in den wesentlichen Zügen ziemlich gleich. Erst die mittelalterliche Phase mit Höhepunkt in der ritterlich-höfischen Blütezeit, markiert durch das Essen mit den Händen. Dann eine Phase relativ rascher Bewegung und Veränderung, etwa das 16., 17. und 18. Jahrhundert umfassend, in der die Zwänge zur Durchformung des Verhaltens beim Essen dauernd in einer Richtung vorangetrieben werden. Am Ende des 18. Jhs. ist jener Standard der Essgebräuche erreicht der in der ganzen 'zivilisierten' Welt als selbstverständlich gilt.


Wie bei den Umgangsformen gibt es eine Art von Doppelbewegung: Verhöflichung bürgerlicher Menschen, Verbürgerlichung höfischer Menschen oder genauer: bürgerliche werden durch das Verhalten höfischer Menschen, höfische durch das Verhalten bürgerlicher Menschen beeinflusst. Die Sprache ist eine der zugänglichsten Manifestationen dessen, was wir als 'National-Charakter' empfinden. Die Art, wie die Sprache sich entwickelt und geprägt wird, entspricht einer bestimmten Art des gesellschaftlichen Aufbaus. Die Sprache ist eine der Verkörperungen des Gesellschafts- oder Seelenlebens. Sprache ist nichts als Laut gewordene menschliche Beziehung.


Gerade die Parallele zwischen der Zivilisierung des Essens und der des Sprechens ist in dieser Hinsicht recht lehrreich. Sie macht deutlich, dass die Veränderung des Verhaltens beim Essen Teil einer sehr umfassenden Wandlung der menschlichen Empfindungen und Haltungen ist.


Bestimmte Verhaltensweisen in einer Schicht oft über das ganze Abendland hin, während andere Verhaltensweisen in anderer Schicht. Daher sind die Unterschiede im Verhalten zwischen verschiedenen Ständen der gleichen Region oft größer, als die zwischen regional getrennten Vertretern der gleichen Schicht. Abgeschlossenheit der Stände. Im Mittelalter kommt bei der Oberschicht das tote Tier als Ganzes auf den Tisch und das Tier wird auf der Tafel zerlegt.


Auch das Messer in der Art seines gesellschaftlichen Gebrauchs ist Inkarnation der Seelen, ihrer veränderten Triebe, Wünsche, geschichtlicher Situationen und gesellschaftlicher Aufbaugesetze. Der Anblick eines gegen das Gesicht gerichteten Messers erweckt Angst. "Richte nicht dein Messer gegen dein Gesicht, denn darin ist viel Schrecken." Hier ist die emotionale Basis des strengen Tabus. Ein gesellschaftliches Ritual bildet sich aus dieser Gefahr, weil sich die gefährliche Geste ganz allgemein als Unlust bringend, als Todes und Gefahrensymbol im Gefühl verfestigt.


Die Schrift des Erasmus markiert auch hier einen Punkt in der Zivilisationskurve, einen Vorstoß der Schamgrenze, aber auch einen Mangel an Scham. Aber es ist ganz deutlich, dass diese Schrift gerade die Funktion hat, Schamgefühle zu züchten. Die Konditionierungstaktiken werden primär durch das Peinlichkeits- und Schamgefühl der Erwachsenen begründet. Eine genauere Triebregelung und Zurückhaltung der Affekte fordern und erzwingen zunächst die sozial Höherstehenden von den sozial Niedrigstehenderen.


In der mittelalterlichen Gesellschaft schneuzte manfrau sich mit den Händen. Die Höflichkeit der Courtoisie: Mit der Linken schneuzen, mit der Rechten das Fleisch nehmen. Keine peinlichen Empfindungen im Mittelalter wenn manfrau sich die Finger beschmutzt. Zur Zeit des Erasmus ist das Taschentuch zwar bekannt aber manfrau schneuzt sich noch links und rechts und vielleicht etwas vom Tisch abgewandt.


Das Spucken bildet ein besonders anschauliches Exempel dafür, wie sich die Zivilisation des Verhaltens produzierte. Im Mittelalter war es nicht nur ein Brauch, sondern offenbar ein allgemeines Bedürfnis, häufig zu spucken. Auch in der ritterlich-höfischen Oberschicht selbstverständlich. Das heutige Spuckverbot unterscheidet von anderen Verboten, dass sich hier die Fremdzwänge mehr oder weniger vollkommen in Selbstzwänge verwandelt haben. Rationale Einsicht ('Hygiene') war nicht die primäre Ursache der Furcht- und Peinlichkeitsgefühle, nicht der Motor der Zivilisation oder der Antrieb zur Veränderung des Verhaltens. Die rationale Einsicht kommt dem Menschen erst in einer späten Phase (19. Jahrhundert), gewissermaßen erst nachträglich.


Im Mittelalter war es gewöhnlich, dass viele (einander fremde) Menschen in einem Raum übernachteten. Einander fremde Menschen schlafen in einem Bett. Das gilt als selbstverständlich und ist in keiner Weise anstößig. Völlig ausgezogen oder völlig angezogen. Der Anblick völliger Nacktheit war die alltägliche Regel bis ins 16. Jahrhundert. Die Menschen waren 'kindlicher'. Das zeigen die Schlaf- und Badesitten.



Das Schamempfinden, das die sexuellen Beziehungen der Menschen umgibt, hat sich im Prozess der Zivilisation beträchtlich verändert und verstärkt. Was dem Betrachter des 19. Jahrhunderts als 'gemeinste Darstellung der Wollust' erscheint, ist für Erasmus und seine Zeitgenossen ein Mustergespräch und Wunschbild. Das 16. Jahrhundert wusste nicht viel von Prüderie und legte den Schülern in ihren Übungsbüchern Sätzen vor, für die sich heutige Pädagogen bedanken würden. 'Ist das Bett beschritten, ist das Recht erstritten'. So hieß es im späteren Mittelalter. Ein anderer Standard des Schamgefühls, als der, der dann im 19. u. 20. Jahrhundert herrschend wird, wo alles was das sexuelle Leben betrifft, in relativ hohem Maße verdeckt und hinter die Kulissen verwiesen wird.


Korrespondenz Gesellschaftsaufbau -- Ich-Aufbau. Die Ausrichtung der Zivilisationsbewegung auf eine immer stärkere und vollkommenere Intimisierung aller körperlichen Funktionen, auf ihre Einklammerung in bestimmten Enklaven, ihre Verlagerung 'hinter verschlossene Türen' hat Konsequenzen sehr verschiedener Art. Es scheiden sich mit anderen Worten im Leben der Menschen selbst mit der fort schreitenden Zivilisation immer stärker eine intime oder heimliche Sphäre und eine öffentliche Sphäre, ein heimliches Verhalten und ein öffentliches Verhalten von einander.


Das Affektgefüge des Menschen ist ein Ganzes auch wenn wir einzelne Triebäußerungen unterscheiden. Diese ergänzen und ersetzen sich, bilden eine Art von Stromkreis im Menschen. Die Entladung der Affekte im Kampf war vielleicht im Mittelalter nicht mehr ganz so ungedämpft wie in der Frühzeit der Völkerwanderung. In der mittelalterlichen Gesellschaft gehören Raub, Kampf, Jagd zu den Lebensnotwendigkeiten und treten offen zutage. Für die Mächtigen und Starken gehört es zu den Freuden des Lebens. Gefangene werden verstümmelt, Brunnen verschüttet, Bäume abgehauen, Felder verwüstet. Das Gros der weltlichen Oberschicht des Mittelalters führte das Leben von Bandenführern. Der Krieger des Mittelalters liebte den Kampf nicht nur, er lebte darin, sein Leben hatte keine andere Funktion.


Wenig ist hinter die Kulissen verlegt. Das Peinlichkeitsempfinden der mittelalterlichen Oberschicht verlangt noch nicht, dass alles Vulgäre hinter die Kulissen des Lebens und damit auch der Bilder verdrängt wird. Herrenbewusstsein und selbstsichere Verachtung der anderen. Die oberste Schicht ist eine Kriegerschicht. Erst später wird die Oberschicht auch von den anderen Schichten abhängig. Im Mittelalter ist die Welt um den Ritter zentriert. Die erotische Beziehung zwischen Mann und Frau ist sehr viel unverdeckter als in der späteren Phase. Die Nacktheit ist noch nicht mit Schamgefühlen belegt.


Im Mittelalter Kämpfe zwischen Adel, Kirche, Fürsten um Anteile an der Herrschaft und Ertrag des Landes. Im Laufe des 12. u. 13. Jahrhunderts eine weitere Gruppe im Kräftespiel: die privilegierten Stadtbewohner, das 'Bürgertum'. Macht sammelt sich in der Hand der Fürsten. Die Fürstenhöfe werden zu den eigentlich Stil bildenden Zentren des Abendlandes. Die maßgebende höfische Gesellschaft bildet sich in Frankreich. Das Zeitalter des Absolutismus. Was in dieser Veränderung der Herrschaftsform zum Ausdruck kommt ist eine Strukturveränderung der abendländischen Gesellschaft im ganzen. Mit der allmählichen Bildung dieser absolutistisch-höfischen Gesellschaft vollzieht sich auch eine Umformung des Triebhaushalts und des Verhaltens der Oberschicht im Sinne der Zivilisation.


Es fehlt uns heute eine sprachliche Apparatur, die dem allmählichen Gleiten all dieser Prozesse angepasst ist.
Es ist ein unpräzises und vorläufiges Hilfsmittel, wenn manfrau sagt: Die Gebundenheit der Menschen und ihrer Triebäußerungen wurde 'größer', die Integration 'enger', die Interdependenz 'stärker'. Es kommt an die geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit nicht ganz heran. Unsere Begriffe sind zu undifferenziert; sie haften zu sehr am Bild materieller Substanzen.





Die Frühform einer solchen 'Gesellschaft' bildet sich langsam an den großritterlichen Feudalhöfen heraus. Hier mit der Größe der Gutserträge, dem Anschluss an das Handelsnetz, mehr Menschen Dienste suchend, hier sind mehr Menschen zu einem friedlichen Umgang gezwungen und verbunden. Die Courtoise ist ein Schritt auf dem Weg, der zu unserer Triebmodellierung führt, ein Schritt in Richtung der 'Zivilisation'. Elias frägt: Was sind Grundlinien aus dem Triebwerk der gesellschaftlichen Prozesse, die zur Gestaltung der Gesellschaft im Sinne des 'Feudalsystems' führen und zu Beziehungen, die sich im Minnesang ausdrücken?


Die Neigung, von einzelnen Urhebern her zu denken, die Denkgewohnheiten, nach den individuellen Schöpfern gesellschaftlicher Transformationen zu fragen machte diese Prozesse und Institutionen so unangreifbar für das nachdenkende Bewusstsein, wie es ehemals für die scholastischen Denker die Naturprozesse waren. Wenn manfrau nach den gesellschaftlichen Prozessen fragt, muss manfrau unmittelbar im Geflecht der menschlichen Beziehungen in der Gesellschaft selbst die Zwänge suchen die sie in Bewegung halten.


Im Mittelalter: Boden wird knapp. Innere und äußere Kolonisation gehen Hand in Hand. Am Beginn der Kreuzzüge stehen der Druck und die verschlossenen Chancen in der Heimat. Die Spannungen im Innern dieser Gesellschaft kamen nicht nur als Verlangen nach Boden und Brot zum Ausdruck. Sie lasteten als seelischer Druck auf dem ganzen Menschen. Der gesellschaftliche Druck gab die bewegende Kraft, wie ein Motor Strom gibt. Die abendländische Ausbreitungsbewegung bekam den Hauptimpuls aus der Landnot der Ritter. Neue Böden konnten nur mit dem Schwert erobert werden.


Das so genannte Feudalsystem das im 12. Jahrhundert deutlicher hervortritt, ist nichts anderes als die Abschlussform dieser Expansionsbewegung im agrarischen Sektor der Gesellschaft; im städtischen hält diese Bewegung noch etwas an und findet ihre Abschlussform im geschlossenen Zunftsystem. Das Land ist verteilt. Aus einer Gesellschaft mit relativ offenen Chancen, wird im Laufe einiger Generationen eine Gesellschaft mit mehr oder weniger geschlossenen Positionen. Individuelle Angewiesenheiten stellen sich her. Man (eher ohne frau? :-) geht Bündnisse ein. Der im Heer höher Rangierende ist 'Lehnsherr', der sozial Schwächere der 'Vasall'.



Die Grundherren, die besser platziert sind und die größeren Chancen haben, belegen die feudale Bewegung mit Beschlag. Sie fixieren es zuungunsten ihrer Vasallen. Eine Reaktion im Sinne einer Konsolidierung. Nach einer Phase des freieren Konkurrenzkampfes verschiebt sich das Gleichgewicht zugunsten der wirtschaftlich stärkeren Gruppen. Die wenigen reicheren und größeren Grundherren gewinnen an gesellschaftlicher Stärke gegenüber den vielen kleinen. Das Wachstum des Handels- und Geldverkehrs kommt den wenigen, reichen und großen Grundherren in ganz anderem Maße zugute als dem Gros der kleinen, die leben wie sie bisher gelebt haben. Auch die wachsenden Handwerker- und Händlersiedlungen, die Städte, schließen sich meist an die Festungen und Verwaltungszentren der großen Herrschaften an und stärken diese durch die Abgaben an sie. Das Schicksal Walthers von der Vogelweide ist typisch. Bei geringen Expansionsmöglichkeiten der Gesellschaft, desto größer die Reservearmee der Oberschicht.


Wachsende Verflechtung und Zusammenwachsen zu einer 'Erdgesellschaft'? Das Wachstum der Integrations- und Herrschaftseinheiten zu immer weiteren Größeneinheiten ist immer zugleich ein Ausdruck für strukturelle Veränderungen im Aufbau der Gesellschaft und der menschlichen Beziehungen selbst. Das Geflecht der Angewiesenheiten und Abhängigkeiten, die sich im Einzelnen kreuzen werden größer und seiner Struktur nach anders. In Korrespondenz damit verändert sich auch die Modellierung des Verhaltens und des ganzen emotionalen Lebens, die Gestalt des Seelenhaushalts.


Die erste Station des aufsteigenden Königshauses sind Konkurrenzkämpfe und Monopolbildung im Rahmen eines Territoriums. In jedem Territorium gelingt es früher oder später durch die Akkumulation von Landbesitz eine Vormachtstellung, Hegemonie oder Monopolstellung zu gewinnen, zuungunsten der vielen kleinen und mittleren Ritterfamilien. Der Mechanismus der Vormachtbildung ist immer der gleiche. Durch Akkumulation des Besitzes, wachsen einzelne Unternehmungen aus dem Konkurrenzbereich heraus und kämpfen miteinander bis nur mehr eines oder zwei einen bestimmten Zweig der Wirtschaft kontrollieren und beherrschen.


Die finanziellen Mittel die der gesellschaftlichen Zentralgewalt zufließen halten das Gewaltmonopol aufrecht, das Gewaltmonopol hält das Abgabenmonopol aufrecht. Es handelt sich um zwei Seiten der gleichen Monopolstellung. Erst mit der Herausbildung dieses beständigen Monopols der Zentralgewalt und dieser spezialisierten Herrschaftsapparatur nehmen die Herrschaftseinheiten den Charakter von 'Staaten' an. Mechanismus der Monopolbildung. Je mehr Menschen durch das Spiel des Monopolmechanismus in Abhängigkeit geraten, desto größer wird die gesellschaftliche Stärke zwar nicht der einzelnen Abhängigen, aber der Abhängigen als eines Ganzen im Verhältnis zu den wenigen oder dem einen Monopolisten.


Überall versuchen die Einheiten zweiter Stärke einen Block gegenüber jener Einheit zu bilden, die durch Zusammenschluss vieler Gebiete der Vormachtstellung am nächsten ist; eine Blockierung provoziert die andere; wie lange das Spiel auch hin und her geht, das System als Ganzes tendiert zum festeren Zusammenschluss immer größerer Gebiete um ein Zentrum zur Konzentrierung der wirklichen Entscheidungsgewalt bei immer weniger Einheiten und schließlich in einem einzigen Zentrum. Aus einer Kriegergesellschaft mit relativ freier Konkurrenz ist eine Gesellschaft mit monopolartig beschränkter Konkurrenz geworden.


Es gibt noch kein allgemeines oder übergreifendes 'Recht', denn es gibt noch keine übergreifende Macht, die ein solches Recht durchsetzen kann. Erst im Zusammenhang mit der Bildung von Gewaltmonopolen, mit der Zentralisierung der Herrschaftsfunktionen setzt sich ein allgemeineres Recht, ein gemeinsamer Rechtscode für große Gebiete durch. Das Besitztum der Königsfamilie hat sehr stark den Charakter eines kleinen Familienunternehmens. Apaganierte, werden zu Konkurrenten eines geschwächten Zentralhauses. Der Konkurrenzkampf ist jetzt auf wenige Abkömmlinge des ursprünglichen Zentralhauses selbst beschränkt. Der Erdteil Europa als Ganzes beginnt ein interdependentes Ländersystem mit einer eigenen Gleich- und Schwergewichtsdynamik zu werden, innerhalb dessen jede Stärkeverschiebung mittelbar oder unmittelbar jede einzelne Einheit, jedes Land, in Mitleidenschaft zieht.


In der gesellschaftlichen Position des großen Feudalherren, des Fürsten vereinigte sich die Funktion des reichsten Mannes, des Besitzers der größten Produktionsmittel seines Gebietes, mit der Funktion des Herrschenden, des Besitzers der militärischen Verfügungsgewalt und der Jurisdiktion. Das Schlüsselstück jedes Herrschaftsmonopols, das Monopol der körperlichen, der militärischen Gewaltausübung, über größere Gebiete hin eine feste und stabile gesellschaftliche Institution bildet, während es sich in der vorangehenden Phase durch jahrhundertelange Kämpfe hindurch erst langsam entwickelt und zwar zunächst in der Form eines privaten, eines Familienmonopols. Für alle naturalwirtschaftlichen Kriegergesellschaften (nicht nur für sie) ist das Schwert ein sehr nahe liegendes, ein unentbehrliches Mittel zum Erwerb von Produktionsmitteln und die Gewaltandrohung ein unentbehrliches Mittel der Produktion.


Aus der Verflechtung von unzähligen individuellen Interessen und Absichten entsteht etwas, das so wie es ist, von keinem Einzelnen geplant oder beabsichtigt worden ist, und das doch zugleich aus Absichten und Aktionen vieler Einzelner hervorging. Und das ist eigentlich das ganze Geheimnis der gesellschaftlichen Verflechtung, ihrer Zwangsläufigkeit, ihrer Aufbaugesetzlichkeit, ihrer Struktur, ihres Prozesscharakters und ihrer Entwicklung; dies ist das Geheimnis der Soziogenese und der Beziehungsdynamik.


Tendenzen zu einer Art von 'Vergesellschaftung' zeigen sich, wenn der Besitz oder der Verfügungsbereich von Zentralherren sehr groß zu werden beginnt (in vorwiegend natural wirtschaftenden Gesellschaften). Was wir 'Feudalismus' nennen und was oben als das Wirken der zentrifugalen Kräfte beschrieben wurde, ist nichts anderes als der Ausdruck solcher Tendenzen; sie zeigen an, dass die funktionelle Abhängigkeit eines Herrn von seinen Dienern, also von breiteren Schichten, im Wachsen ist; sie führt zum Übergang der Verfügungsgewalt über Böden und (kriegerische) Machtinstrumente aus der Hand des Zentralherrn in die der nächsten Diener. Vergesellschaftung bedeutet eine Auflösung des zentralisierten Monopols. Wenn ein Gesellschaftsverband sich als Ganzes reicher differenziert dann erst werden regulierende und koordinierende Zentralorgane für die Aufrechterhaltung des ganzen gesellschaftlichen Getriebes so unentbehrlich, dass sie nicht mehr aufgelöst werden können.


An den Zentralorganen sind, wie an jeder anderen gesellschaftlichen Formation, zwei Charaktere zu unterscheiden: Ihre Funktion innerhalb des Menschengeflechts dem sie angehören, und die gesellschaftliche Stärke, die sich jeweils mit dieser Funktion verbindet. Was wir 'Herrschaft' nennen, ist in einer hohen differenzierten Gesellschaft nichts anderes als die besondere gesellschaftliche Stärke, die bestimmte Funktionen, die vor allem die Zentralfunktionen ihren Inhabern im Verhältnis zu den Inhabern anderer Funktionen verleihen. Die Veränderungen in der gesellschaftlichen Stärke der Zentralfunktionäre, sind sichere Anzeichen für spezifische Veränderungen der Spannungsverhältnisse im Innern der ganzen Gesellschaft.


Am Ausgang des Mittelalter erlangt der Zentralherr eine überaus große gesellschaftliche Stärke. Gerade in dieser Zeit gewinnt der Kreislauf der funktionsteiligen Aktionsketten eine immer größere Weite und Festigkeit. Die Eigengesetzlichkeit der gesellschaftlichen Prozesse, der Funktionärscharakter der Zentralgewalt macht sich nun bereits stärker geltend als im Mittelalter.


In den Beziehungen einzelner Menschen (wie auch in Funktionsschichten) zeigt sich eine spezifische Zwiespältigkeit oder gar eine Vielspältigkeit der Interessen um so stärker, je weiter und reicher gegliedert das Netz der Interdependenzen wird. Alle Menschen sind hier in irgendeiner Form aufeinander angewiesen; sie sind potentielle Freunde und Verbündete zugleich Interessengegner, Konkurrenten oder Feinde. Diese Vielspältigkeit der Interessen ist eine der folgenreichsten Struktureigentümlichkeiten der höher differenzierten Gesellschaften und eine der wichtigsten Prägeapparaturen für das zivilisierte Verhalten.


Nun folgt der Schlüssel zum Verständnis der Veränderungen in der gesellschaftlichen Stärke der Zentralfunktionäre. Wer in dieser Konstellation, in einer solchen, durch entscheidungslose Kämpfe ermüdeten und unruhigen Gesellschaft die Verfügung über die obersten Regulations- und Kontrollorgane erlangen kann, hat die Chance, den Kompromiss zur Erhaltung der bestehenden Gewichtsverteilung zwischen den gespaltenen Interessen zu erzwingen. Die verschiedenen Interessengruppen können weder auseinander noch zueinander; das macht sie zur Erhaltung ihrer aktuellen sozialen Existenz auf die oberste Koordinationszentrale in ganz anderem Maße angewiesen. Es macht sie abhängig. Die Stunde der Zentralgewalt innerhalb einer reich differenzierten Gesellschaft rückt heran, wenn die Interessenambivalenz der wichtigsten Funktionsgruppen so groß wird UND die Gewichte sich zwischen ihnen so gleichmäßig verteilen, dass es weder zu einem entschiedenen Kompromiss, noch zu einem entschiedenen Kampf und Sieg zwischen ihnen kommt.


Wenn sich der Zentralherr zu stark mit einer der Gruppen identifiziert, wenn die Distanz zwischen ihm und irgendeiner Gruppe sich allzu sehr verringert, ist früher oder später die gesellschaftliche Stärke seiner eigenen Position bedroht.
Denn diese Stärke hängt davon ab, dass ein gewisses Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Gruppen und ein gewisses Maß von Kooperation oder Zusammenhalt zwischen den verschiedenen Interessen einer Gesellschaft besteht; aber sie hängt auch davon ab, dass starke und ständige Spannungen und Interessengegensätze zwischen ihnen vorhanden sind.


Verschiedene Teile der Gesellschaft halten sich an sozialer Stärke annähernd die Waage; die Spannungen zwischen ihnen kommen in einer Reihe von Kämpfen zum Ausdruck, aber keine Seite kann die andere besiegen oder vernichten; sie können nicht zusammenkommen, weil jede Stärkung der einen Seite die soziale Existenz der anderen bedroht; sie können nicht auseinander,weil ihre soziale Existenz interdependent ist. Das ist die Situation, die dem König, dem Mann an der Spitze, dem Zentralherrn seine optimale Macht gibt.


Es sind weit mehr die Mechanismen der vordringenden Monetarisierung und Kommerzialisierung, als bewusste Anschläge bürgerlich-städtischer Kreise, die am Ausgang des Mittelalters das Gros der ritterlichen Feudalherren bergab drängen. Die gesellschaftliche Institution des Königtums erlangt ihre größte gesellschaftliche Stärke in jener Phase der Gesellschaftsgeschichte, in der ein schwächer werdender Adel mit aufsteigenden bürgerlichen Gruppen rivalisieren muss. Die rascher fortschreitende Monetarisierung und Kommerzialisierung des 16. Jahrhunderts gibt bürgerlichen Gruppen einen mächtigen Auftrieb und drückt den Adel beträchtlich herab. Gemeinsam ist dem dritten Stand (1.= Klerus, 2. = Adel) vor allem ein Interesse: Das Interesse an der Aufrechterhaltung ihrer verschiedenen Privilegien.


In der Gesellschaft des 9. u. 10. Jahrhunderts gibt es zwei Schichten von Freien, die Kleriker und die Krieger. Die Angewiesenheit der Krieger ist (vor allem in Friedenszeiten) vom König gering. Die Angewiesenheit der Kleriker ist größer. Das Königtum erhält eine Art von sakralem Charakter, es wird gewissermaßen zu einer kirchlichen Funktion. Die enge Verbindung des Königshauses mit der Kirche macht die Klöster, Abteien und Bistümer im Gebiete anderer Territorialherren zu Bastionen des Königtums.


In der mittelalterlichen Welt lebt jeder Stand in einem Bezirk für sich und sie konkurrieren noch nicht häufig. Erst allmählich erfassen die Könige den Nutzen der Städte und es braucht Zeit bis erkannt wird, dass sie eine gewaltige Vergrößerung der eigenen Chancen bedeutet. Dann aber fördern sie mit großer Konsequenz die Interessen dieses dritten Standes (Bürger), soweit es ihren eigenen Interessen entspricht. Die Mehrzahl der Bürgerlichen aber gelangt durch das Studium, durch die Kenntnis des kanonischen und römischen Rechts in die höheren Bezirke des Herrschaftsapparats.


Die Hofämter, die vielen Ämter des königlichen Haushalts werden dem Adel vorbehalten. Damit finden viele bezahlte Stellen; auch die Nähe zum König gibt diesen Stellen ein hohes Prestige. Die Hofämter werden zu einem Monopol des Adels. Das Doppelgesicht des absolutistischen Hofes entspricht genau diesem zwiespältigen Verhältnis von König und Adel. Dieser Hof ist ein Instrument zur Beherrschung des Adels und gleichzeitig ein Instrument zu seiner Versorgung.


In der vorwiegend natural wirtschaftenden Gesellschaft empfindet manfrau Steuern als etwas vollkommen Unerhörtes; manfrau steht zu solchen Maßnahmen nicht sehr viel anders als zu Raubzügen oder zum Nehmen von Zins. Die Bürger haben sich mit der Waffe ihre Stadtfreiheit erkämpft. Nun kommt der Brauch auf, auch die Stadtbewohner, die 'Bourgeois', zu Kriegsdiensten heranzuziehen. Die Stadtbewohner ziehen es aber bald vor, dem Territorialherren statt der Kriegsdienste Geld anzubieten, damit er sich Krieger mieten kann. So wird aus diesen städtischen Geldzahlungen zur Ablösung der Kriegsdienste ziemlich rasch ein fester Brauch oder eine Institution.


Die bürgerliche Oberschicht steht nicht nur in einem Spannungsverhältnis zu den weltlichen und geistlichen Feudalherren, sondern auch zu den unteren, städtischen Schichten. Hier ist es vor allem die Uneinigkeit der städtischen Schichten selbst, die den Zentralherrn begünstigt. Nicht nur die soziale sondern auch die regionale Zerspaltenheit begünstigt die Zentralfunktion. Jeder einzelnen Schicht, jeder einzelnen Region gegenüber ist die Zentralfunktion der stärkere Teil. Immer wieder ist es die in der Hand der Zentrale konzentrierte Kriegsmacht, die die Verfügungsgewalt der Zentralfunktion über die Abgaben sichert und steigert, und es ist die konzentrierte Verfügung über die Steuern, die eine immer stärkere Monopolisierung der physischen Gewaltausübung, der Kriegsmacht, ermöglicht.


Die weltliche Gesellschaft des französischen ancien régime besteht aus zwei Sektoren (ländlich-agrarischer und städtisch-bürgerlicher). In beiden gibt es eine Unterschicht (Bauern und städtische Masse der Gesellen, Arbeiter). In beiden gibt es eine Mittelschicht (Land-, Provinzadel und wohlhabende Kaufleute, Gerichts- und Verwaltungsbeamte). Der König hält das Spannungsgleichgewicht mit Sorgfalt aufrecht. Er sichert die Privilegien und das gesellschaftliche Prestige des Adels gegenüber der wachsenden, ökonomischen Stärke bürgerlicher Gruppen.


Eine Funktion im Sinne der heutigen arbeitsteiligen Nationen hat dieser Adel nicht gehabt. Der Adel hat eine Funktion für den König. Er gehört zu den Fundamenten seiner Herrschaft. Er ermöglicht es dem König, sich vom Bürgertum zu distanzieren, wo wie es ihm ermöglicht ist sich durch das Bürgertum vom Adel zu distanzieren. Der Adel hält dem Bürgertum in der Gesellschaft das Gegengewicht. Ohne diese Spannung zwischen Adel und Bürgertum verlöre der König den größten Teil seiner Verfügungsgewalt.

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Die Theorie der Zivilisation aus dem zweiten Band
kommt Anfang bis Mitte Juli 2007


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