20070709

Der gesellschaftliche Zwang zum Selbstzwang tz-01

I'm reading: Der gesellschaftliche Zwang zum Selbstzwang tz-01Tweet this!

Theorie der Zivilisation von Norbert Elias Teil 1

(Frage:) Was hat die Organisierung der Gesellschaft in der Form von 'Staaten' (Monopolisierung u. Zentralisierung der Abgaben und körperlicher Gewalttat) mit der 'Zivilisation' zu schaffen?

Wir sehen (Def.:) , dass der Prozess der Zivilisation eine Veränderung des menschlichen Verhaltens und Empfindens in einer ganz bestimmten Richtung ist.

Sie wurde nicht beabsichtigt und nicht bewusst rational verwirklicht.

Die 'Zivilisation' ist ebenso wenig wie die 'Rationalisierung' ein Produkt der menschlichen 'Ratio' und Resultat einer auf weite Sicht hin berechneten Planung. Nichts in der Geschichte weist darauf hin, dass diese Veränderung 'rational', etwa durch eine zielbewusste Erziehung von einzelnen Menschengruppen durchgeführt worden ist. Sie vollzieht sich als Ganzes ungeplant.

Nun eine Anmerkung aus den Fußnoten (S. 475):
Weit verbreitet ist heute die Vorstellung, dass die Formen des gesellschaftlichen Zusammenlebens und die einzelnen gesellschaftlichen Institutionen primär aus ihrer Zweckmäßigkeit für die derart verbundenen Menschen zu erklären sind.
Es sieht nach dieser Vorstellung so aus, als ob die Menschen aus der Einsicht in die Zweckmäßigkeit dieser Institutionen irgend wann einmal gemeinsam den Entschluss gefasst hätten, so und nicht anders miteinander zu leben. Aber diese Vorstellung ist eine Fiktion, und sie ist schon allein deswegen kein sehr gutes Leitinstrument der Forschung.

Die Einwilligung mit anderen zusammen zu leben und die Rechtfertigung dessen ist etwas Nachträgliches. Der Einzelne hat in dieser Hinsicht keine sehr große Wahl. Er wird in eine Ordnung und Institutionen hinein geboren; er wird konditioniert und selbst wenn er diese Ordnung und Institutionen wenig schön, wenig zweckmäßig findet, kann er nicht einfach seine Einwilligung zurückziehen und aus der bestehenden Ordnung herausspringen.

Er/Sie mag Abenteurer, Tramp, Gammler, Hippie, Bücherschreiber und am Ende auf einer einsamen Insel sein, aber er ist ihr Produkt. Die Ordnung zu missbilligen und vor ihr zu fliehen ist kein geringerer Ausdruck der Bedingtheit durch sie, als sie zu preisen und zu rechtfertigen.

Manfrau verstellt sich den Zugang zum Verständnis der Genese von Gesellschaftsformen, wenn manfrau sie sich in der gleichen Weise entstanden denkt, wie die Werke und Taten einzelner Menschen: durch individuelle Zwecksetzungen oder gar durch vernünftige Überlegungen und Pläne.

Die Vorstellung, dass die Zivilisation des Abendlandes auf Grund einer klaren Zwecksetzung geschieht ist durch Tatsachen kaum zu belegen. Es ist also wenig im Grunde getan, wenn manfrau Institutionen, wie den Staat, aus rationalen Zwecksetzungen erklärt.
Diese Verflechtung vieler Menschen ist selbst nichts Geplantes. Hier hat manfrau es mit Erscheinungen, mit Zwängen und Gesetzmäßigkeiten eigener Art zu tun.

Zivilisation ist nicht aus einem gemeinsamen Plane Vieler, sondern als etwas Ungeplantes, hervorgehend aus dem Mit- und Gegeneinander der Pläne vieler Menschen entstanden. So kommt es zu zunehmender Funktionsteilung, Integration von großen Menschenräumen und vielen anderen geschichtlich-gesellschaftlichen Prozessen. Und erst die Eigengesetzlichkeit der Verflechtung von individuellen Plänen und Handlungen, in die Bindung des Einzelnen durch sein Zusammenleben mit Andere, erst sie ermöglicht schließlich auch ein besseres Verständnis für das Phänomen der Individualität.

Das Miteinanderleben der Menschen, das Geflecht ihrer Absichten und Pläne, die Bindungen der Menschen durcheinander, sie bilden (weit entfernt die Individualität des Einzelnen zu vernichten), vielmehr das Medium, in dem sie sich entfaltet. Sie setzen dem Individuum Grenzen, aber sie geben ihm zugleich einen mehr oder weniger großen Spielraum. Das gesellschaftliche Gewebe der Menschen bildet das Substrat, aus dem heraus, in das hinein der Einzelne ständig seine individuellen Zwecke spinnt und webt (S. 477). Genaueres dazu: N. Elias, Die Gesellschaft der Individuen, Basel, 1939).
Ende Anmerkung aus Fußnote.

Aber die Zivilisation vollzieht sich dennoch nicht ohne eine eigentümliche Ordnung. Es ist gezeigt worden
1. wie Fremdzwänge sich in Selbstzwänge verwandeln;
2. wie menschliche Verrichtungen hinter die Kulisse des gesellschaftlichen Lebens verdrängt und mit Schamgefühlen belegt werden;
3. wie die Regelung des gesamten Trieb- und Affektlebens durch eine beständige Selbstkontrolle immer stabiler wird.
Alles das geht nicht auf eine rationale Idee zurück, die vor Jahrhunderten konzipiert und dann einer Generation nach der anderen als Zweck des Handelns, als Ziel der Wünsche eingepflanzt wurde. Aber diese Transformation ist dennoch auch nicht nur ein strukturloser und chaotischer Wechsel (S. 312, 313).

Anmerkung: "Bei Durchsicht meiner ersten Stücke" schrieb Bertold Brecht: "Aber der den großen Sprung machen will, muss einige Schritte zurückgehen. Das Heute geht gespeist durch das Gestern in das Morgen. Die Geschichte macht vielleicht einen reinen Tisch, aber sie scheut den leeren."

Das allgemeine Problem des geschichtlichen Wandels: Dieser Wandel als Ganzes ist nicht 'rational' geplant; aber er ist auch nicht nur ein regelloses Kommen und Gehen ungeordneter Gestalten. (Frage:) Wie ist das möglich? Wie kommt es zu Gestaltungen, die kein Mensch beabsichtigt hat, und die dennoch alles andere sind als Wolkengebilde ohne Festigkeit, ohne Aufbau und Strukur?

Die Antwort auf diese Fragen ist einfach genug:
Pläne und Handlungen, emotionale und rationale Regungen der einzelnen Menschen greifen beständig freundlich oder feindlich ineinander. Diese fundamentale Verflechtung der einzelnen, menschlichen Pläne und Handlungen kann Wandlungen und Gestaltungen herbeiführen, die kein einzelner Mensch geplant oder geschaffen hat. Aus ihr, aus der Interdependenz der Menschen, ergibt sich eine Ordnung von ganz spezifischer Art, eine Ordnung, die zwingender und stärker ist, als Wille und Vernunft der einzelnen Menschen, die sie bilden. Es ist diese Verflechtungsordnung, die den Gang des geschichtlichen Wandels bestimmt; sie ist es, die dem Prozess der Zivilisation zugrunde liegt.

Diese Ordnung ist weder rational (entstanden aus zweckgerichteten Überlegungen einzelner Menschen) noch irrational (auf unbegreifliche Weise). Diese Ordnung ist von einzelnen Menschen mit der 'Natur' identifiziert worden; sie wurde von Hegel und Anderen als eine Art von überindividuellem Geist interpretiert (seine Vorstellung von einer 'List der Idee' zeigt, wie sehr ihn auch die Tatsache beschäftigte, dass sich aus allem Planen und Handeln der Menschen vieles ergibt, was kein Mensch beabsichtigt hat).

Aber solche Denkgewohnheiten (rational oder irrational) erweisen sich hier als unzulänglich. Die Wirklichkeit ist auch in dieser Hinsicht nicht ganz so aufgebaut, wie es uns die Begriffsapparatur eines bestimmten Standards glauben machen will, die ganz gewiss zu ihrer Zeit als Kompass durch die unbekannte Welt gute Dienste geleistet hat.

Die Eigengesetzlichkeit der gesellschaftlichen Verflechtungserscheinungen ist weder identisch mit der Gesetzlichkeit des 'Geistes', des individuellen Denkens und Planens, noch mit der Gesetzlichkeit dessen, was wir die 'Natur' nennen, wenn auch alle diese verschiedenen Dimensionen der Wirklichkeit funktionell unablösbar miteinander verbunden sind (S. 314).

Der allgemeine Hinweis auf die Eigengesetzlichkeit der Verflechtungserscheinungen fördert das Verständnis solcher Erscheinungen wenig, er bleibt leer und missverständlich, wenn manfrau nicht zugleich unmittelbar an bestimmten, geschichtlichen Wandlungen selbst die konkreten Mechanismen der Verflechtung und damit das Wirken dieser Gesetzmäßigkeiten aufzeigt.
Das wurde im dritten Kapitel gezeigt.
Im dritten Kapitel wird gezeigt, welche Art der Verflechtung, der wechselseitigen Angewiesenheit oder Abhängigkeit von Menschen, beispielsweise den Prozess der Zivilisation in Gang bringt. Hier ist gezeigt worden, wie der Zwang von Konkurrenzsituationen eine Reihe von Feudalherren gegeneinander treibt, wie der Kreis der Konkurrenten sich langsam verengt, wie es zur Monopolstellung eines von ihnen und damit im Zusammenhang zur Bildung des absolutistischen Staates kommt.

Diese ganze Umorganisierung der menschlichen Beziehungen hat ganz gewiss ihre unmittelbare Bedeutung für jene Veränderung des menschlichen Habitus, deren vorläufiges Ergebnis unsere Form des 'zivilisierten' Verhaltens und Empfindens ist und von diesem spezifischen Wandel im Aufbau des psychischen Habits wird in der Folge gesprochen werden.

Der Anblick dieser Verflechtungsmechanismen ist auch noch in einem allgemeineren Sinne für das Verständnis des Zivilisationsprozesses von Bedeutung: Erst wenn manfrau sieht, mit welch hohem Maß von Zwangsläufigkeit ein bestimmter Gesellschaftsaufbau, eine bestimmte Form der gesellschaftlichen Verflechtung kraft ihrer Spannungen zu einer spezifischen Veränderung und damit zu anderen Formen der Verflechtung hindrängt, erst dann kann manfrau verstehen, wie jene Veränderungen des menschlichen Habitus, jene Veränderungen in der Modellierung des plastischen, psychischen Apparats zustande kommen, die sich bis zur Gegenwart immer von neuem beobachten lassen. Erst dann kann manfrau auch verstehen, dass der Veränderung des psychischen Habitus im Sinne einer Zivilisation eine ganz bestimmte Richtung und Ordnung innewohnt.

Elias macht in einer Fußnote klar, dass er hier nicht an eine Entwicklung im Sinne Darwins (biologistische Vorstellungen) glaubt, er zitiert aus Social Change, Ogburn, London 1923: "The inevitable series of stages in the development of social institutions has not only not been proven but has been disproven ...(S.477) - the achievements have not been up to the high hopes entertained shortly after the publication of Darwins theory of natural selection. Goldenweiser, Social Evolution in Encyclopedia of Social Sciences, New York 1935:...(Evolution) is no longer accepted as a process to be contemplated, but as a task to be achieved by deliberate and concerted human effort".
Anmerkung: Das könnte bedeuten, dass 'Evolution' keinen für die menschliche 'Entwicklung' bedeutenden wissenschaftlichen Erklärungswert besitzt, sondern selber an sich einen bloßen ideellen Wert (eine zu vollführende Aufgabe) darstellt.

Die Zivilisation ist nichts 'Vernünftiges'; sie ist nichts 'Rationales', so wenig sie etwas 'Irrationales' ist. Sie wird blind in Gang gesetzt und in Gang gehalten durch die Eigendynamik eines Beziehungsgeflechts, durch spezifische Veränderungen der Art, in der die Menschen miteinander zu leben gehalten sind (S. 316).

Aber es ist durchaus nicht unmöglich, dass wir etwas 'Vernünftigeres', etwas im Sinne unserer Bedürfnisse und Zwecke besser Funktionierendes daraus machen können. Denn gerade im Zusammenhang mit dem Zivilisationsprozess gibt das blinde Spiel der Verflechtungsmechanismen selbst allmählich einen größeren Spielraum zu planmäßigen Eingriffen in das Verflechtungsgewebe und den psychischen Habitus, zu Eingriffen auf Grund der Kenntnis ihrer ungeplanten Gesetzmäßigkeiten (S. 316).

(Frage:) Aber welche spezifische Veränderung modelliert den psychischen Apparat im Sinne einer 'Zivilisation'?

Von den frühesten Zeiten der abendländischen Geschichte bis zur Gegenwart differenzieren sich die gesellschaftlichen Funktionen unter einem starken Konkurrenzdruck mehr und mehr. Je mehr sie sich differenzieren, desto größer wird die Zahl der Funktionen und damit der Menschen von denen der Einzelne abhängt. Das Verhalten von immer mehr Menschen muss aufeinander abgestimmt, genauer und straffer durch organisiert sein, damit die einzelne Handlung ihre gesellschaftliche Funktion erfüllt.

Der Einzelne wird gezwungen, sein Verhalten immer differenzierter zu regulieren. Es handelt sich hier keineswegs nur um eine bewusste Regulierung. Gerade dies ist typisch für die Veränderung des psychischen Apparats im Zuge der Zivilisation, dass die stabilere Regelung des Verhaltens dem einzelnen Menschen als ein Automatismus an gezüchtet wird, als Selbstzwang, dessen er sich nicht erwehren kann, selbst wenn er es in seinem Bewusstsein will.

So verfestigt sich im Einzelnen neben der bewussten Selbstkontrolle zugleich eine automatisch und blind arbeitende Selbstkontrollapparatur, die durch einen Zaun von schweren Ängsten Verstöße zu verhindern sucht. Aber bewusst oder nicht bewusst, die Richtung dieser Veränderung des Verhaltens im Sinne einer immer differenzierteren Regelung der gesamten psychischen Apparatur ist bestimmt durch die Richtung der gesellschaftlichen Differenzierung, durch die fortschreitende Funktionsteilung und die Ausweitung der Interdependenzketten in die jede Regung des Einzelnen eingebettet ist (S. 317).

Ein einfaches Bild dafür sind die Wege und Straßen.
Mittelalter: holprig, ungepflastert, natural-wirtschaftende Kriegergesellschaft, wenig Verkehr, Hauptgefahr der Überfall, die Gefahr ist überall gegenwärtig, ständige Bereitschaft zu kämpfen, die Leidenschaften spielen.
Heutige Zeit: Ein Hindurchwinden, Regulationen, geregelte Kreuzungen, Hauptgefahr, dass jemand die Selbst-Kontrolle verliert.

Mit der Differenzierung des gesellschaftlichen Gewebes wird auch die soziogene psychische Selbstkontrollapparatur differenzierter, allseitiger und stabiler. Aber die fortschreitende Differenzierung der gesellschaftlichen Funktionen ist nur die erste, die allgemeinste der gesellschaftlichen Transformationen der Ursachen für die Veränderung des psychischen Habitus im Sinne einer 'Zivilisation'.

Mit der fortschreitenden Funktionsteilung geht eine totale Umorganisierung des gesellschaftlichen Gewebes Hand in Hand. (Siehe oben, zentrifugale Tendenzen, Feudalisierung..) Die eigentümliche Stabilität der psychischen Selbstzwang-Apparatur, die als ein entscheidender Zug im Habitus jedes 'zivilisierten' Menschen hervortritt, steht mit der Ausbildung von Monopolinstituten der körperlichen Gewalttat und mit der wachsenden Stabilität de gesellschaftlichen Zentralorgane in engstem Zusammenhang.

Erst mit der Ausbildung solcher stabiler Monopolinstitute stellt sich jene gesellschaftliche Prägeapparatur her, die den Einzelnen von klein auf an ein An-sich-Halten gewöhnt; erst im Zusammenhang mit ihr bildet sich im Individuum eine stabilere, zum guten Teil automatisch arbeitende Selbstkontrollapparatur (S. 320).

Wenn sich ein Gewaltmonopol bildet entstehen befriedete Räume, gesellschaftliche Felder, die von Gewalttaten normalerweise frei bleiben. die Zwänge, die innerhalb ihrer auf den einzelnen Menschen wirken, sind von anderer Art, als zuvor. Gewaltformen bleiben für sich in entsprechend veränderter Form den befriedeten Räumen zurück. Am sichtbarsten sind sie durch die wirtschaftliche Gewalt, durch ökonomische Zwänge verkörpert.

Folgendes ist die Richtung, in der sich das Verhalten und der Affekthaushalt der Menschen ändern, wenn sich der Aufbau der menschlichen Beziehungen in der geschilderten Weise umbildet:
Gesellschaften ohne stabiles Gewaltmonopol sind immer Gesellschaften, in denen die Funktionsteilung relativ gering und die Handlungsketten, die den Einzelnen binden, verhältnismäßig kurz sind, umgekehrt:
Gesellschaften mit stabileren Gewaltmonopolen, verkörpert zunächst durch einen größeren Königshof, sind Gesellschaften, in denen die Funktionsteilung mehr oder weniger weit gediehen ist, in denen die Handlungsketten, die den Einzelnen binden, länger und die funktionellen Abhängigkeiten des einen Menschen von anderen größer sind.
Hier ist der Einzelne geschützt aber auch selbst gezwungen die eigenen Leidenschaften und Wallungen zurück zu drängen (S. 321).

Je dichter das Interdependenzgeflecht wird, in das der Einzelne mit der fortschreitenden Funktionsteilung versponnen ist, je größer die Menschenräume sind, desto mehr ist der Einzelne in seiner sozialen Existenz bedroht, der spontanen Wallungen und Leidenschaften nachgibt; desto mehr ist derjenige im Vorteil, der seine Affekte zu dämpfen vermag. Mit der Monopolisierung der körperlichen Gewalt vollzieht sich eine Veränderung des Verhaltens im Sinne der 'Zivilisation' (S. 322).

Die Verwandlung des Adels aus einer Schicht von Rittern in eine Schicht von Höflingen ist ein Beispiel dafür. Wenn sich Monopolorganisationen der körperlichen Gewalt bilden, streben langsam die Affektäußerungen einer mittleren Linie zu.

Die Gewalttat ist kaserniert und hat in der Form, als Kontrollorganisation einen bestimmten Einfluss auf den Einzelnen in der Gesellschaft, er mag es wissen oder nicht. Diese Kontrollorganisation ist eine eigentümliche Form der Sicherheit. Von dieser gespeicherten Gewalt in der Kulisse des Alltags geht ein beständiger, gleichmäßiger Druck auf das Leben des Einzelnen aus, den er oft kaum noch spürt, weil er sich völlig an ihn gewöhnt hat.
Es ist die ganze Prägeapparatur des Verhaltens, die sich ändert und nicht nur die sondern der ganze Aufbau der psychischen Selbststeuerung.

Die Monopolorganisation zwingt nicht durch eine unmittelbare Bedrohung. Sie wirkt durch das Medium seiner eigenen Überlegung hindurch. Der aktuelle Zwang ist einer, den der/die Einzelne nun auf Grund seines Wissens um die Folgen seiner Handlungen auf sich selbst ausübt.
Die Monopolisierung der körperlichen Gewalt zwingt die waffenlosen Menschen in den befriedeten Räumen zu einer Zurückhaltung durch die eigene Voraussicht oder Überlegung; sie zwingt diese Menschen mit einem Wort zur Selbstbeherrschung (S. 326).

Die psychische Apparatur der Selbstkontrolle (Über-Ich, Gewissen...) wird nur in einer solchen Kriegergesellschaft unmittelbar gezüchtet. Sie ist im Verhältnis zu der Selbstzwangapparatur in stärker pazifizierten Gesellschaften diffus, unstabil und voll von Durchlässen für heftige Entladungen; die Ängste sind hier noch nicht im entferntesten dermaßen aus dem Bewusstsein in das 'Innere' zurückgedrängt. Die Angst hat hier noch stärker die Gestalt einer Angst vor äußeren Mächten (S. 327).

Was sich mit der Monopolisierung der Gewalttat in den befriedeten Räumen herstellt, ist ein anderer Typus von Selbstbeherrschung oder Selbstzwang. Es ist eine leidenschaftslosere Selbstbeherrschung.
Der Kontroll- und Überwachungsapparatur in der Gesellschaft entspricht die Kontrollapparatur, die sich im Seelenhaushalt des Individuums herausbildet. Beide üben einen steten, gleichmäßigen Druck zur Dämpfung der Affektäußerungen aus.

Wie in der Gesellschaft die Monopolisierung der physischen Gewalt die Angst und den Schrecken verringert, die der Mensch vor dem Menschen haben muss, aber zugleich auch die eigenen Affektentladungen hindert so sucht im Einzelnen die stetige Selbstkontrolle, an die er mehr und mehr gewöhnt wird, die Umschwünge im Verhalten und die Affektgeladenheit zu verringern. Wozu der Einzelne nun gedrängt wird, ist eine Umformung des ganzen Seelenhaushalts im Sinne einer kontinuierlichen, gleichmäßigen Regelung seines Trieblebens und seines Verhaltens nach allen Seiten hin (S. 328).

Und ganz in der gleichen Richtung wirken die waffenlosen Zwänge, z.B. die wirtschaftlichen Zwänge, denen der/die Einzelne in den befriedeten Räumen ausgesetzt wird. Sie zwingen zu einer unaufhörlichen Rück- und Voraussicht über den Augenblick hinaus, entsprechend der längeren und differenzierteren Ketten, sie fordern vom Einzelnen eine beständige Bewältigung seiner augenblicklichen Affekt- und Triebregungen.
Sie züchten im Einzelnen eine gleichmäßige Selbstbeherrschung, eine beständige Regelung seiner Triebe im Sinne der gesellschaftlichen Standarde.

Diese Zurückhaltung wird ihm von klein auf so zur Gewohnheit gemacht, dass sich in ihm, gleichsam als eine Relaisstation der gesellschaftlichen Standarde, eine automatische Selbstüberwachung der Triebe im Sinne der jeweiligen gesellschaftsüblichen Schemata und Modelle, eine 'Vernunft', ein 'Über-Ich' herausbildet, und dass ein Teil der zurückgehaltenen Triebregungen und Neigungen ihm überhaupt nicht mehr unmittelbar zum Bewusstsein kommt (S. 329).

Früher in der Kriegergesellschaft wurde die größere Chance zur unmittelbaren Lust mit Furcht (Höllenvorstellungen) bezahlt. Beides Lust und Unlust entlud sich hier offener und freier nach außen. Aber das Individuum war ihr Gefangener. Der/die Einzelne beherrschte seine/ihre Leidenschaften weniger, er/sie war stärker von ihnen beherrscht.
Der einzelne Mensch ist nun weniger Gefangener seiner Leidenschaften als zuvor, aber stärker als früher ist er durch seine funktionelle Abhängigkeit von der Tätigkeit einer immer größeren Anzahl Menschen gebunden und seine unmittelbare Triebbefriedigung ist viel beschränkter als früher.

Das Leben wird in gewissem Sinne gefahrloser, aber auch affekt- oder lustloser. Manfrau schafft sich dafür das, was im Alltag fehlt, im Traum, in Büchern und Bildern einen Ersatz: so beginnt der Adel auf dem Wege der Verhöflichung Ritterromane zu lesen, so sieht der Bürger Gewalttat und Liebesleidenschaft im Film (S. 330).
Der Kriegsschauplatz wird zugleich in gewissem Sinne nach innen verlegt. Ein Teil der Spannungen und Leidenschaften, die ehemals unmittelbar im Kampf zwischen Mensch und Mensch zum Austrag kamen, muss nun der Mensch in sich selbst bewältigen.

Die friedlicheren Zwänge, die seine Beziehungen zu anderen auf ihn ausüben, bilden sich in ihm ab; es verfestigt sich eine eigentümliche Gewohnheitsapparatur in ihm, ein spezifisches 'Über-Ich', das beständig seine Affekte im Sinne des gesellschaftlichen Aufbaus zu regeln, umzuformen oder unterdrücken trachtet. Aber die Triebe kämpfen nun in dem Einzelnen gegen diesen überwachenden Teil seines Selbst (S. 330, 331).

Durch die Interdependenz größerer Menschengruppen voneinander und durch die Aussonderung der physischen Gewalttat innerhalb ihrer stellt sich eine Gesellschaftsapparatur her, in der sich dauernd die Zwänge der Menschen aufeinander in Selbstzwänge umsetzen.
Diese Selbstzwänge, die von klein auf heran gebildet werden, haben teils die Gestalt einer bewussten Selbstbeherrschung, teils die Gestalt automatisch funktionierender Gewohnheiten; sie wirken auf eine genauere Regelung der Trieb- und Affektäußerungen nach einem der gesellschaftlichen Lage entsprechenden Schema hin; aber je nach dem inneren Druck, je nach Lage der Gesellschaft und des Einzelnen in ihr, erzeugen sie auch eigentümliche Spannungen und Störungen im Verhalten und Triebleben des Individuums, zu ständiger Unruhe und Unbefriedigtheit des Menschen, eben weil ein Teil seiner Neigungen und Triebe nur noch in verwandelter Form, etwa in der Phantasie, im Zusehen oder Zuhören, im Tag- oder Nachttraum Befriedigung finden kann.
Manchmal geht die Gewöhnung an eine Affektdämpfung so weit (z.B. Langeweile, Einsamkeitsempfindungen), dass dem Einzelnen eine furchtlose Äußerung der verwandelten Triebe in keiner Form mehr möglich ist.
Triebzwänge werden da anästhisiert und umgeben sich unter dem Druck der Gefahren dermaßen mit automatisch auftretenden Ängsten, dass sie unter Umständen für ein ganzes Leben lang taub und unansprechbar bleiben.
Eine dauernde scheinbar unbegründete innere Unruhe mag anzeigen, wie viele Triebenergien in eine Gestalt gebannt sind, die keine wirkliche Befriedigung zulässt (S. 332).
Kuriose Steckenpferde.

Der individuelle Zivilisationsprozess vollzieht sich größtenteils blind (bewusst ungesehen). Unter der Decke dessen, was die Erwachsenen denken und planen, hat die Art der Beziehung, die sich zwischen ihnen und den Heranwachsenden herstellt, Funktionen und Wirkungen in deren Seelenhaushalt, die sie nicht beabsichtigt haben und von denen sie kaum etwas wissen.

Ungeplant in diesem Sinne (re-)produzieren sich extrem ungünstige abnorme Modellierungserscheinungen, eigentlich psychische Abnormalitäten.
Aber auch der Habitus, der sich im Rahmen der jeweiligen gesellschaftlichen Norm hält und zugleich subjektiv befriedigender ist, produziert sich nicht weniger ungeplant. Aus der gleichen, gesellschaftlichen Prägeapparatur gehen in einer breiten Streungskurve günstiger und ungünstiger gelagerte, menschliche Prägungen hervor (S. 333).

Die Umleitung und Verwandlung einzelner Triebenergien (Freud: 'Sublimierung') mag, statt in absonderlichen Vorlieben in einer individuell höchst befriedigenden und gesellschaftlich höchst fruchtbaren Tätigkeit oder Begabung ihren Ausdruck finden.
Hier wie dort (beim 'Abnormen' wie beim 'Angepassten') bildet sich das Beziehungsgeflecht der prägsamsten Phase, der Kinder- und Jugendzeit, in dem psychischen Apparat des einzelnen Menschen, in der Beziehung zwischen seinem Über-Ich und seinem Triebzentrum als sein individuelles Gepräge ab; hier wie dort verfestigt es sich zu einer Gewohnheitsapparatur.

Worin besteht der theoretische Unterschied zwischen einem individuellen Zivilisationsprozess, der als gelungen oder einem der als nicht gelungen gilt?

In dem einen Fall bilden sich schließlich im Rahmen einer gesellschaftlichen Erwachsenenfunktion gut eingepasste Verhaltensweisen und zugleich eine positive Lustbilanz; im anderen Fall schwere Anspannung mit hohen Kosten persönlicher Befriedigung und keine positive Lustbilanz, weil eine Instanz ihm verbietet und bestraft, was die andere möchte (S. 334, 335).

In Wirklichkeit lebt die Mehrzahl der Zivilisierten zwischen diesen beiden Extremen auf einer mittleren Linie.

Der gesellschaftliche Modellierungsprozess im Sinne einer abendländischen Zivilisation ist besonders schwierig. Er muss, um auch nur einigermaßen zu gelinge, entsprechend dem Aufbau der abendländischen Gesellschaft, eine besonders reiche Differenzierung, eine besonders intensive und stabile Regulierung des psychischen Apparates produzieren. Er nimmt daher im allgemeinen, und vor allem in den oberen und den mittleren Schichten, mehr Zeit in Anspruch als der Modellierungsprozess in weniger differenzierten Gesellschaften.
Der Widerstand gegen die Einpassung in den vorgegebenen Zivilisationsstandard, ist immer sehr beträchtlich. Später, als in weniger differenzierten Gesellschaften, erlangt der Einzelne den psychischen Habitus eines Erwachsenen.

Zusammenfassung:

Gesellschaftliche und individuelle Zivilisationsprozesse finden sich überall, wo unter einem Konkurrenzdruck die Funktionsteilung größerer Menschenräume voneinander abhängig, wo eine Monopolisierung der körperlichen Gewalt eine leidenschaftsfreiere Kooperation möglich und notwendig macht, überall, wo sich Funktionen herstellen, die eine beständige Rück- und Voraussicht auf die Aktionen und Absichten Anderer über viele Glieder hinweg erfordern.

Bestimmend für Art und Grad solcher Zivilisationsschübe ist dabei immer die Weite der Interdependenzen, der Grad der Funktionsteilung und der Aufbau der Funktionen innerhalb ihrer (S. 336).

-o-o-o-

1 Kommentare:

heureka47 14. Dezember 2017 um 01:39  

Der Prozeß der Zivilisation läuft parallel mit der auslösenden seelischen Störung, der (kollektiven) Neurose, die ich seit 1992 die "Kollektive Zivilisations-Neurose" (KZN) nenne.
Diese besteht, wie Kollektive Neurosen immer, aus den individuellen Neurosen der (Mehrheit der) Mitglieder des jeweiligen Kollektivs.

Aus meiner Sicht ist "Neurose" hauptsächlich der Zustand zwischen Traumatisierung / seelischer Verletzung und grundlegender, natürlicher, Heilung. Dabei handelt es sich m.E. um die schlimmste gesundheitliche Störung überhaupt und gleichzeitig um die wesentliche Ursache aller sogenannten "Störungen" / "Krankheiten", bei denen es sich hauptsächlich um "sprechende" - symbolische - Symptome handelt, die Hinweise auf Ursache, Mangel und Bedürfnis geben wollen.

Ich könnte die KZN auch "Pseudo-rationales Irresein" nennen. Auch andere, die sich damit befaßten, haben von "(kollektive) Neurose" abweichende Benennungen gewählt - wie z.B.

- Menschheitsneurose (S. Freud in "Das Unbehagen in der Kultur");
- Gesellschaftsneurose / Kakokratie (H. Oberth in "Wählerfibel für ein Weltparlament");
- Emotionale Pest / Biopathie (W. Reich);
- Christusmord (W. Reich; Buchtitel);
- Die Krankheit der Gesellschaft (W. Kütemeyer);
- Dysgnosie (H. von Förster in "Wissen und Gewissen");
- "(Erb-)Sünde", das "Böse" (früher: "Übel"); (Bibel);
- "Latente Angst" (R. Taéni);
- "Neurotische Verwahrlosung" (Christa Meves in "Manipulierte Maßlosigkeit");
- "Der Wahnsinn der Normalität" (Arno Gruen);
- "Die Pathologie der Normalität" (Erich Fromm);
u.a.m.

Die "Zivilisation" / "zivilisierte Gesellschaft" ist keine heile / wahre Kultur mehr; sie leidet an Kulturverlust - denn der wesentliche Aspekt von Kultur, der "Kult der wahren Menschwerdung", der regelhaft in der Pubertät durchzuführen ist (wäre), ist "verloren gegangen" / "in Vergessenheit geraten"; vermutlich im Bereich "Germaniens" auch durch die Römer "ausgetrieben" worden.

Doch diese Phase war nicht die Entstehungsphase der KZN auf unserem Planeten, sondern die KZN trat ein vor mehr als 10.000 (evtl. auch schon vor 74.000) Jahren. Als Ursache / Auslöser favorisiere ich derzeit die "Toba-Katastrophe".

Da gesunde - wahre - Erwachsene kaum zu traumatisieren / neurotisieren sind, vermute ich, daß eine Gruppe von KINDERN, die traumatisiert waren UND von ihren Eltern getrennt wurden, das erste befallene Kollektiv waren.

Außerdem vermute ich, daß mit diesem Eintreten / Ausbrechen einer kollektiven Neurose die Menschheit des homo sapiens das ERSTE MAL konfrontiert worden ist - und folglich niemand im Umfeld des befallenen Kollektivs erkennen konnte, um was für ein Phänomen es sich bei den Befallenen handelt.

misterlinker

backlinksite

stats

BlogCatalog News

twittercounter

TwitterCounter for @transitenator

twitter updates

BC Neighbors

Blogger:

Mein Bild
Bad Goisern @ HallstaetterSee, Upper Austria, Austria
Austrian Blogger Stumbler Digger Social Networker Promoter etc-
Powered By Blogger

  © Blogger template Brooklyn by Ourblogtemplates.com 2008

Back to TOP