Scham Peinlichkeit Angst Gefühle tz-06
Tweet this!N. E. Th. d. Zivilis. Teil 6
Die Modellierung des Triebhaushaltes
Für den Prozess der Zivilisation ist wie die 'Rationalisierung' die Modellierung des Triebhaushaltes (Scham- und Peinlichkeitsempfindung) eigentümlich. (Besonders vom 16. Jahrhundert an ein starkes Vorrücken der Scham- und Peinlichkeitsschwelle.
Das Schamgefühl ist eine Angst vor der sozialen Degradierung bzw. vor den Überlegenheitsgesten Anderer. Es ist eine Form der Unlust oder Angst, die sich dann herstellt, wenn diese Gefahr nicht durch irgendeine Form des Angriffs abgewehrt werden kann. Eine Wehrlosigkeit vor der Überlegenheit anderer. Ein Ausgeliefert sein. Geht auf physische Zwänge, auf die körperliche Unterlegenheit des Kindes gegenüber seinen Modelleuren zurück. Beim Erwachsenen kommt diese Wehrlosigkeit daher, dass Menschen, deren Überlegenheitsgesten manfrau fürchtet, sich in Einklang mit dem eigenen Über-Ich des Wehrlosen und Geängstigten befinden, mit der Selbstzwangapparatur, die in dem Individuum durch Andere, von denen er abhängig war heran gezüchtet worden ist (S. 398).
Die Schamerregung gerät mit sich selbst in Widerspruch. Der Konflikt, der sich in Scham-Angst äußert ist nicht nur ein Konflikt des Individuums mit der herrschenden, gesellschaftlichen Meinung, sondern ein Konflikt in den sein/ihr Verhalten das Individuum mit dem Teil seines Selbst gebracht hat, der diese gesellschaftliche Meinung repräsentiert; es ist ein Konflikt des eigenen Seelenhaushalts; er/sie selbst erkennt sich als unterlegen an. Er/Sie fürchtet den Verlust der Liebe oder Achtung von Anderen, an deren Liebe und Achtung ihm/ihr liegt oder gelegen war. Deren Haltung hat sich in ihm zu einer Haltung verfestigt, die er automatisch sich selbst gegenüber einnimmt. Das ist es was ihn gegenüber den Überlegenheitsgesten Anderer, die in irgendeiner Hinsicht diesem Automatismus in ihm/ihr selbst aktualisieren, so wehrlos macht (S. 398).
Die Angst vor der Übertretung gesellschaftlicher Verbote ist um so stärker und erhält um so stärker den Charakter der Scham, je stärker durch den Aufbau der Gesellschaft Fremdzwänge in Selbstzwänge umgewandelt werden, und je umfassender, je differenzierter der Ring der Selbstzwänge wird.
Manfrau kann von diesen Schamgefühlen nur reden im Zusammenhang mit ihrer Soziogenese, mit Schüben in denen die Schamschwelle vorrückt oder wandert und in denen sich Aufbau und Schema der Selbstzwänge in einer bestimmten Richtung ändern, um sich dann wieder in der gleichen Form zu reproduzieren (S. 399).
Beide, Rationalisierung und Vorrücken der Scham- und Peinlichkeits Grenze sind ein Ausdruck für eine Verringerung der direkten Ängste vor der Bedrohung oder Überwältigung durch andere Wesen und für eine Verstärkung der automatischen, inneren Ängste, der Zwänge, die derdie Einzelne nun auf sich selbst ausübt.
In beiden gleichermaßen, kommt die größere, die differenziertere Vor- und Langsicht zum Ausdruck. Beide sind nichts als verschiedene Aspekte der stärkeren Spaltung des individuellen Seelenhaushalts, die sich mit der zunehmenden Funktionsteilung einstellt.
Verschiedene Aspekte der wachsenden Differenzierung zwischen Triebfunktionen, zwischen 'Es' und 'Ich' oder 'Über-Ich'. Dem 'Ich' im engeren als 'Über-Ich' bezeichnet, kommt im Sinne der psychischen Steuerungsfunktionen eine doppelte Funktion zu. Einerseits als Zentrum von dem aus sich ein Mensch in seinen Beziehungen zu anderen Dingen und Wesen steuert, andererseits als Steuerung und Regulierung, teils automatisch unbewusst, teils bewusst des 'Inneren', der eigenen Triebregungen.
Die Schichten der psychischen Funktionen haben eine doppelte Aufgabe. Sie treiben zugleich eine 'Innenpolitik' und eine 'Außenpolitik', die oft genug im Widerspruch zueinander stehen kann (S. 400).
Auf diese Weise erklärt es sich also, dass in der gleichen, geschichtlich- gesellschaftlichen Periode, in der die Rationalisierung spürbar vorankommt, auch ein Vorrücken der Scham- und Peinlichkeitsgrenze beobachtbar ist.
Ein entsprechender Vorgang ist noch heute im Leben jedes einzelnen Kindes zu beobachten: Die Rationalisierung des Verhaltens ist ein Ausdruck für die Außenpolitik der gleichen Über-Ich-Bildung, deren Innenpolitik in einem Vorrücken der Schamgrenze zum Ausdruck kommt (S. 401).
Schamgefühle sind aber keinesfalls immer in der gleichen Weise in den Seelenhaushalt eingebaut (S. 402).
Aus der Fußnote: Der Verinnerlichungs- und Rationalisierungsschub, der in den verschiedenen puritanisch-protestantischen Bewegungen zum Ausdruck kommt, steht offenbar mit bestimmten Veränderungen in der Lage und im Aufbau mittelständischer Schichten im engsten Zusammenhang (S. 402).
Beispiel: Körperliche Entblößungen: Zuerst unterliegt die Entblößung des sozial Höherstehenden noch keinem strengen gesellschaftlichen Verbot, kann sogar Auszeichnung sein, oder Zeichen des Wohlwollens. Entblößung des Niedrigerstehenden als Zeichen der Respektlosigkeit. Wird mit Angst belegt.
Erst wenn die ständischen Mauern fallen, wenn die funktionelle Abhängigkeit aller von allen noch stärker wird und alle Menschen gleichwertiger, erst dann wird eine Entblößung in Gegenwart jedes anderen Menschen zu einem Verstoß (S. 403).
Das gleiche gilt von den Peinlichkeitsgefühlen. Sie bilden ein untrennbares Gegenstück zu den Schamgefühlen.
Diese (Schamgefühle) stellen sich her, wenn ein Mensch selbst gegen Verbote des Ich und der Gesellschaft verstößt.
Jene (Peinlichkeitsgefühle) stellen sich dadurch ein, wenn irgend etwas außerhalb des Einzelnen an dessen Gefahrenzone rührt, an Verhaltensformen (Gegenstände, Neigungen) die frühzeitig von seiner Umgebung mit Angst belegt wurden, bis sich diese Angst in ihm bei analogen Gelegenheiten automatisch wieder erzeugt.
Peinlichkeitsgefühle sind Unlusterregungen oder Ängste, die auftreten, wenn ein anderes Wesen die durch das Über-Ich repräsentierte Verbotsskala der Gesellschaft zu durchbrechen droht oder durchbricht (S. 404).
Vom 16.Jahrhundert ab rückt die Scham und Peinlichkeitsschwelle allmählich rascher vor. Dieses Vorrücken fällt zusammen mit der beschleunigten Verhöflichung der Oberschicht.
Die Gedankenketten schließen sich langsam. Es ist die Zeit in der die Abhängigkeitsketten, die sich in dem Einzelnen kreuzen, dichter und länger werden.
Immer mehr Menschen sind aneinander gebunden und der Zwang zur Selbstkontrolle wächst.
Wie die wechselseitige Abhängigkeit, so wird auch die wechselseitige Beobachtung der Menschen stärker; die Sensibilität und dementsprechend die Verbote werden differenzierter.
Vielfältiger wird auch das, worüber manfrau sich schämen muss, das, was man an Anderen als peinlich empfindet (S. 404).
Mit der fortschreitenden Funktionsteilung und der stärkeren Integrierung der Menschen verringern sich die Kontraste zwischen verschiedenen Schichten und Ländern, während sich die Schattierungen und Spielarten vergrößern. Die Menschen werden sensibler für kleinere Gesten und Formen.
Die 'Primitiven' erleben den Menschen- und Naturraum in dem relativ engen Bezirk, der für sie lebenswichtig ist, in bestimmter Hinsicht weit differenzierter als die 'Zivilisierten'.
Bei primitiveren Menschen ist die Fähigkeit, in Feld und Wald etwas zu unterscheiden, mehr entwickelt als bei 'Zivilisierten'.
Die Art, wie langsam im Anstieg des Mittelalters und dann beschleunigt vom 16. Jahrhundert an die Natur erlebt wird, ist gekennzeichnet, dass immer größere Menschenräume befriedet werden; Wälder, Wiesen und Berge hören allmählich auf Gefahrenzonen erster Ordnung zu sein.
Raubritter und Raubtiere verschwinden.
Wald und Feld sind nicht mehr Schauplatz ungedämpfter Leidenschaften, wilder Jagden auf Menschen und Tiere, wilder Lust und wilder Angst (S. 405).
Die befriedete Natur wird in einer neuen Weise sichtbar. Sie wird in hohem Maße zu einem Gegenstand der Augenlust, vor allem für die an Städte gebundenen Menschen. Sie werden empfindlicher, sie erfreuen sich am Zusammenklang der Farben und Linien; sie werden offen für das, was manfrau die Schönheit der Natur nennt.
Und im Zuge dieser Pazifizierung ändert sich zugleich auch die Sensibilität der Menschen für ihr Verhalten im Verkehr miteinander.
Nun verstärken sich proportional zur Abnahme der äußeren die inneren Ängste. Auf Grund dieser inneren Spannungen beginnen die Menschen sich gegenseitig differenzierter zu erleben. Die Gefahrenzone geht jetzt gewissermaßen quer durch die Seele aller Individuen hin.
Darum werden die Menschen auch jetzt in dieser Sphäre für Unterschiede empfindlich, die zuvor kaum ins Bewusstsein drangen. Wie die Natur zur Quelle einer durch das Auge vermittelten Lust wird, so werden auch die Menschen nun für einander in höherem Maße zur Quelle einer Augenlust oder der Unlust, zu Erregern von Peinlichkeitsgefühlen verschiedenen Grades (S. 407).
Nirgends in der menschlichen Gesellschaft gibt es einen Nullpunkt der Ängste vor äußeren Mächten und nirgends einen Nullpunkt der automatischen, inneren.
Die Ängste des Menschen vor äußeren Mächten werden geringer. Beide sind voneinander untrennbar. Was vor sich geht (im Zivilisationsprozess) ist nicht das Verschwinden der einen und das Auftauchen der anderen.
Was sich ändert, ist lediglich die Proportion zwischen den äußeren und den selbsttätigen Ängsten und deren gesamter Aufbau (S. 408).
Eines darf manfrau bei alledem nicht übersehen: Dass heute, wie ehemals alle Formen der inneren Ängste eines Erwachsenen mit Ängsten des Kindes in Beziehung zu Anderen, mit Ängsten vor äußeren Mächten zusammenhängen (S. 409).
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