Zwänge Furcht Kontraste Technik tz-03
Tweet this!N. E. Th. d. Zivilis. Teil 3
Verringerung der Kontraste, Vergrößerung der Spielarten.
Zivilisation vollzieht sich in Auf- und Abstiegsbewegungen. Im allgemeinen kann manfrau sagen, dass Unterschichten ihren Affekten und Trieben unmittelbarer nachgeben, dass ihr Verhalten weniger genau reguliert ist, als das der zugehörigen Oberschichten.
Die Zwänge, die auf Unterschichten wirken sind über große Teile der Geschichte hin Zwänge der unmittelbaren körperlichen Bedrohung (Qual, Schwert).
Und solche Gewalten, solche Situationen führen NICHT zu einer stabilen Umformung der Fremdzwänge in Selbstzwänge.
Bild: Der Arme den nach Fleisch gelüstet, aber nur Brösel hat gegenüber dem Asketen der sich Fleisch versagt und Brösel ißt.
Bild: Der begüterte Kaufmann, er arbeitet weil seine Arbeit den Sinn und die Legitimierung seines Lebens darstellt und der sich durch Selbstzwang die Arbeit so zur Gewohnheit macht, 'dass sein Seelenhaushalt etwas von seinem Gleichgewicht verliert, wenn er nicht mehr arbeiten kann'.
Es gehört zu den Eigentümlichkeiten der abendländischen Gesellschaft, dass sich dieser Kontrast zwischen der Lage und dem Verhaltenscode der oberen und unteren Schichten erheblich verringert.
Es breiten sich auch Unterschichtcharaktere über alle Schichten hin aus. Früher war Arbeit ein Merkmal der unteren Schichten. Zugleich breiten sich Charaktere, die früher zu den Unterscheidungsmerkmalen von Oberschichten gehörten, ebenfalls über die ganze Gesellschaft hin aus.
Die Verwandlung der gesellschaftlichen Fremdzwänge in Selbstzwänge vollzieht sich innerhalb des Abendlandes mehr und mehr auch bei den breiten Massenschichten
Die Triebmodellierungen, die Verhaltensformen, der ganze Habitus der unteren Schichten in der zivilisierten Gesellschaft nähert sich mit der steigenden Bedeutung ihrer Funktionen im Ganzen dem der Mittelschichten (höheres Prestige).
Diese eigentümliche Durchdringung und Mischung von Verhaltensweisen ist eines der wichtigsten Eigentümlichkeiten des Prozesses der Zivilisation. Diese Bewegung ist nicht geradlinig.
Was wir als 'Ausbreitung der Zivilisation' bezeichnen sind die bisher letzten Wellen einer jahrhundertelangen Bewegung, deren charakteristische Figuren sich hier durchsetzen (S. 344).
Der Verlauf aller dieser Expansionen ist nur zu einem geringen Teil durch die Pläne und Wünsche derer bestimmt, deren Verhaltensweisen übernommen werden.
Die modellgebenden Schichten sind auch heute nicht schlechthin die freien Schöpfer oder Urheber der Expansionsbewegung.
Nicht die 'Technik' ist die Ursache dieser Verhaltensänderung; was wir 'Technik' nennen, ist selbst nur eines der Symbole, eine der letzten Verfestigungsformen jener beständigen Langsicht, zu der die Bildung immer längerer Handlungsketten und der Wettkampf unter den derart Verbundenen hindrängt.
Die 'zivilisierten' Verhaltensformen breiten sich aus, weil durch die Einbeziehung in das Interdependenzgeflecht, dessen Zentrum zunächst die Abendländer bilden, ebenfalls die Struktur der Gesellschaft geändert wird und somit der Aufbau der menschlichen Beziehungen im Ganzen.
Technik, Schulerziehung, alles das sind Teilerscheinungen.
Auch hier in den Expansionsgebieten des alten Occidents (S. 345).
Dies, die Umbildung der gesamten, gesellschaftlichen Existenz, ist auch hier das Fundament der Zivilisation des Verhaltens. Eben darum bahnt sich (im Verhältnis des Abendlandes zu anderen Gebieten der Erde) jene Verringerung der Kontraste an, die allen Wellen der Zivilisationsbewegung eigentümlich ist (S. 346).
Diese immer wiederkehrende Einschmelzung von Verhaltensweisen der funktional oberen Schichten ist nicht wenig bezeichnend für die zwiespältige Stellung der Oberschichten in diesem Prozess.
Die Gewöhnung an eine Langsicht, die strenge Regelung des Verhaltens und der Affekte sind wichtige Instrumente ihrer Überlegenheit über andere.
(Anmerkung : Inwieweit die heutige Ökonomie und das Geldwesen 'langsichtig' funktioniert wäre eine Diskussion wert. Manche Produktzyklen sind sehr kurzlebig, oft muss schnell zugegriffen, schnell gekauft und sehr schnell gekauft werden sonst sind die Gewinne im Eimer. Aktienhandel und andere Spekulationen verlangen nun oft blitzschnelle Reaktionen.
Welche Art von Langfristigkeit mag dahinter stecken? Und ob eine 'Langsicht' sich gegenüber einer 'Kurzsicht' durchsetzen kann? Haftet einer Langsichtigkeit nicht vielleicht auch eine gewisse Trägheit und Unbeweglichkeit an?).
Die Anspannung und Langsicht, die es kostet, die gehobene Stellung als Oberschicht aufrechtzuerhalten, kommt im inneren Verkehr der Gesellschaft durch die Stärke der gesellschaftlichen Überwachung zum Ausdruck, die ihre Mitglieder aufeinander ausüben.
Die Furcht der ganzen Gruppe um die Erhaltung der gehobenen Position und aus deren größerer oder geringerer Bedrohung wirkt unmittelbar eine Triebkraft zur Aufrechterhaltung des Verhaltenscodes, zur Züchtung des Über-Ich in ihren einzelnen Mitgliedern.
Sie setzt sich in individuelle Angst, in die Furcht des Einzelnen vor der persönlichen Degradierung oder Minderung des Prestiges in der eigenen Gesellschaft um; und es ist diese als Selbstzwang angezüchtete Furcht vor der Verringerung des eigenen Ansehens in den Augen anderer, mag sie nun die Gestalt der Scham oder des Ehrgefühls annehmen, die die ständige, gewohnheitsmäßige Wiedererzeugung des unterscheidenden Verhaltens und die strenge Triebregelung dahinter im einzelnen Menschen sichert (S. 347).
Die Oberschichten drängen dazu, ihre spezifische Triebregelung als Unterscheidungsmerkmale mit allen Kräften aufrechtzuerhalten.
Der Aufbau der Gesamtbewegung drängt zur Abschwächung der Verhaltensunterschiede (Kontraste).
Diese Zivilisation ist das unterscheidende und Überlegenheit gebende Kennzeichen der Okzidentalen. Aber zugleich erzeugen und erzwingen die Menschen des Abendlandes unter dem Druck ihres eigenen Konkurrenzkampfes in weiten Teilen der Erde eine Veränderung der menschlichen Beziehungen und Funktionen zu ihrem eigenen Standard hin.
Sie machen weite Teile der Welt von sich abhängig und werden zugleich von ihnen abhängig. So wird in eine Richtung gearbeitet, dass sich die Unterschiede in der gesellschaftlichen Stärke zwischen Kolonisatoren und Kolonisierten verringern und die Kontraste spürbar kleiner werden.
Auch jenseits des Abendlandes Durchdringungs- und Mischungsprozesse und abendländische Verhaltensweisen, die von oben nach unten dringen (gelegentlich von unten nach oben) (S. 348).
Die Kontraste des Verhaltens zwischen den jeweils oberen und den jeweils unteren Gruppen verringern sich mit der Ausbreitung der Zivilisation; die Spielarten oder Schattierungen des zivilisierten Verhaltens werden größer.
Was sich in der abendländischen Oberschicht in den Kolonialgebieten als untere, aufsteigende Schicht nähert, sind zunächst meist die Oberschichten der dortigen Völkergruppen.
Im Abendland werden die unteren Schichten in den Standard des zivilisierten Verhaltens einbezogen, Regelung der Affekte, Ausbildung einer Selbstzwangapparatur auch bei ihnen.
Manfrau sieht etwa in England im Verhalten der Arbeiter noch das von Landedelleuten, in Frankreich zugleich das der Höflinge und eines durch Revolution zur Macht gekommenen Bürgertums.
In den Kolonialnationen eine weiter ausgeschliffenere Regelung der Affekte bei den Arbeitern als in den anderen Nationen, die spät oder gar nicht zur kolonialen Expansion kamen, weil sich Gewalt- und Steuermonople erst später bildeten (S. 349).
Auch zurück, im 17., 18. u. 19. Jahrhundert begegnet manfrau der gleichen Figur, der Durchdringung von Verhaltensweisen des Adels und des Bürgertums. Als Niederschlag der Prozesse entsteht ein Amalgam, eine neue Einheit von einzigartigem Charakter.
Auch wenn der Adel Abgrenzungen sucht, damit nur der Eingeweihte, nur der Zugehörige das Geheimnis des guten Benehmens kennen sollte; nur im Verkehr mit der guten Gesellschaft sollte manfrau es lernen können. Aber die Gewalten des Verflechtungsstromes sind stärker als der Wall, den der Adel um sich zu ziehen suchte.
Es sind kleine Funktionszentren in denen sich der Zwang der wachsenden Funktionsverflechtung zuerst bemerkbar macht.
Schließlich beginnt die gleiche Transformation der gesellschaftlichen Funktionen und damit des Verhaltens, des ganzen psychischen Apparates, auch in den außereuropäischen Ländern (S. 351).
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