20070712

Psychologisierung Rationalisierung Transformation tz-05

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N. E. Th. d. Zivilis. Teil 5

Die Dämpfung der Triebe.


Am großen absolutistischen Hof bildet sich zum ersten mal eine Art von Gesellschaft mit Aufbaueigentümlichkeiten, die durch alle Verwandlungen hindurch immer von neuem eine entscheidende Rolle spielen. Es bildet sich eine "gute Gesellschaft".
Die Anwendung körperlicher Gewalt tritt zurück doch übt nun der Mensch in mannigfachen anderen Formen Zwang und Gewalt aus. Das Leben in diesem Kreis ist kein friedliches Leben. Der Druck der Konkurrenz um Prestige und die Gunst des Königs ist stark. Die "Affairen", die Rang und Gunststreitigkeiten brechen nicht ab. An die Stelle körperlicher Gewalt treten Intrigen und Kämpfe mit Worten um Karriere und sozialen Erfolg. Sie verlangen und züchten andere Eigenschaften, als die Kämpfe die mit der Waffe ausgefochten werden können: Überlegung, Berechnung auf längere Sicht, Selbstbeherrschung, genaueste Regelung der eigenen Affekte, Kenntnis der Menschen und des gesamten Terrains werden zu unerlässlichen Voraussetzungen jedes sozialen Erfolges (S. 370).

Der Einzelne gehört nun zu einer 'Clique', zu einem ihn unterstützenden Verkehrskreis. Er geht Bündnisse ein mit Personen die möglichst hoch im höfischen Kurs rangieren. Aber der Kurs der Personen wechselt, sie haben Konkurrenten, offene und versteckte Feinde; und die Taktik der Kämpfe bedarf einer genauen Überlegung; jeder Gruß, jedes Gespräch hat eine Bedeutung über das unmittelbar Gesagte oder Getane hinaus; sie zeigen den Kurswert der Menschen an; und sie tragen zur Bildung der höfischen Meinung über diesen Wert bei: Der Hof ist eine Art Börse; wie in jeder guten 'Gesellschaft' bildet sich beständig im Austausch der Menschen eine 'Meinung' über den Wert jedes Einzelnen; dieser Wert hat seine reale Grundlage nicht in dem Geldvermögen und nicht in den Leistungen sondern in der Gunst, die er beim König genießt, in dem Einfluss den er bei anderen Mächtigen hat.

Das Spiel um Gunst, Einfluss und Bedeutung ist ein Spiel bei dem unmittelbare körperliche Gewaltanwendung verboten und existenzgefährdend sind aber vielmehr eine beständige Langsicht und eine genaue Kenntnis jedes Anderen, seiner Stellung, seines Kurswertes im Geflecht der höfischen Meinungen erfordert. Es erfordert weiters eine genaue Differenzierung des eigenen Verhaltens entsprechend diesem Verflechtungswert (S. 371).

Die Verwandlung des Adels in Richtung des 'zivilisierten' Verhaltens ist unverkennbar. Sie ist hier noch nicht so tief greifend und umfassend, wie später in der bürgerlichen Gesellschaft; denn der Hofmann tut sich den Zwang nur gegenüber Standesgenossen an, und nur in erheblich geringerem Maß gegenüber sozial Niedrigerstehenden.

Das Schema der Trieb- und Affektregulierung in der höfischen Gesellschaft ist ein anderes als in der bürgerlichen, auch das Wissen darum, dass es sich um eine Regulierung aus gesellschaftlichen Gründen handelt, ist noch wacher (Anm: noch nicht so unbewusst wie in der bürgerlichen).

Die Selbstzwänge sind beim Adel noch nicht eine vollständig automatisch arbeitende Selbstzwangapparatur. Aber der Mensch differenziert sich stärker, er verleugnet sein Herz, er handelt gegen sein Gefühl. Die augenblickliche Lust wird in Voraussicht der Unlust zurückgehalten.

Das ist der gleiche Mechanismus, mit dem nun durch Erwachsene in den Kindern von klein auf ein stabileres 'Über-Ich' gezüchtet wird. Die momentane Trieb- und Affektregung wird gewissermaßen durch die Angst vor der kommenden Unlust überdeckt und bewältigt, bis diese Angst sich schließlich gewohnheitsmäßig den verbotenen Verhaltensweisen und Neigungen entgegen stemmt, selbst wenn gar keine andere Person mehr unmittelbar gegenwärtig ist, die sie erzeugt. Die Energien solcher Neigungen werden in eine ungefährliche, durch keine Unlust bedrohte Richtung gelenkt (S. 372).

Dem Umbau der Gesellschaft entsprechend, baut sich auch der Affekthaushalt des Einzelnen um. Und wie sich Verhalten und Seelenhaushalt des Einzelnen verändern, ändert sich in entsprechender Weise auch die Art, in der ein Mensch den anderen betrachtet; das Bild, das der Mensch vom Menschen hat, wird reicher an Schattierungen, es wird freier von momentanen Emotionen, es 'psychologisiert' sich. Berechnung greift in Berechnung.

Früher, bei den Kriegern griff Affekt in Affekt. Jemand ist gut oder böse, Freund oder Feind. Je nachdem wie manfrau einen Anderen gemäß dieser Schwarzweißzeichnung der Affekte sieht, so verhält manfrau sich. Alles scheint auf den empfindenden Menschen bezogen.

Eine Langsicht auf Natur und Menschen gewinnen die Menschen erst in dem Grade, in dem die fortschreitende Funktionsteilung und die alltägliche Verflechtung in längere Menschenketten den Einzelnen an eine solche Langsicht und eine größere Zurückhaltung der Affekte gewöhnen.
Dann erst lichtet sich der Schleier, den die Leidenschaften vor das Auge legen, ohne dass etwas unmittelbar feindlich oder freundlich für ihn gemeint zu sein braucht. Es kommt zu einer leidenschaftsloseren Beobachtung über lange Strecken hin.

Wie das Gesamtverhalten, so wird auch die Beobachtung der Dinge und Menschen im Zuge der Zivilisation affektneutraler. Das Weltbild wird weniger unmittelbar durch menschliche Wünsche und Ängste bestimmt, und es orientiert sich stärker an 'Erfahrung' oder 'Empirie', an Verflechtungsreihen, die ihre eigene Gesetzmäßigkeit haben.

Besonders im näheren und weiteren Zirkel des Hofes entwickelt sich das, was wir heute wohl eine 'psychologische' Betrachtung des Menschen nennen würden, eine genauere Beobachtung des Anderen und seiner selbst über größere Motivationsreihen und Zusammenhangsketten.
Warum?
Weil hier die Überwachung seiner selbst und die beständige, sorgfältige Beobachtung Anderer zu den elementaren Voraussetzungen für die Wahrung der gesellschaftlichen Position gehört. Das ist eines der Beispiele dafür, was wir die 'Orientierung an der Erfahrung' nennen, die Beobachtung über längere Verflechtungen hin (S. 374).

Diese höfische Kunst der Menschenbeobachtung ist, zum Unterschied von dem was wir heute gewöhnlich 'Psychologie' nennen -, niemals darauf abgestellt, den einzelnen Menschen für sich allein zu betrachten, der Zugriff ist hier um so wirklichkeitsnaher, als der Einzelne immer in seiner gesellschaftlichen Verflochtenheit ins Auge gefasst wird, als ein Mensch in seinen Beziehungen zu anderen, als Einzelner in einer gesellschaftlichen Situation (S. 375).

Diese 'Psychologisierung' der Verhaltensvorschriften (genauer: ihre stärkere Durchtränkung mit Beobachtungen und Erfahrungen) ist ein Ausdruck für die rascher fortschreitende Verhöflichung der Oberschicht und für die engere Verflechtung aller Teile der Gesellschaft. Die Menschenbeobachtung, die das Leben im höfischen Kreise erfordert, findet ihren literarischen Ausdruck in einer Kunst der Menschenschilderung.

Das stärkere Verlangen nach Büchern innerhalb einer Gesellschaft ist an sich bereits ein sicheres Zeichen für einen starken Zivilisationsschub; denn die Triebverwaltung und -regulierung, die es erfordert Bücher zu schreiben ist in jedem Fall beträchtlich. Das Buch spielt aber in der höfischen Gesellschaft noch nicht die gleiche Rolle, wie in der bürgerlichen.

Der gesellige Verkehr, der Markt der Prestigewerte, bildet hier für jeden Einzelnen den Mittelpunkt seines Lebens. Auch die Bücher sind für das gesellschaftlich - gesellige Beisammensein bestimmt; sie sind Teile und Fortsetzungen der Gespräche und geselligen Spiele. Die Kunst der Menschenschilderung gibt einen guten Eindruck von der differenzierten Menschenbeobachtung, zu der das höfische Leben selbst erzieht.

Wie in vielen anderen Beziehungen, entwickelt in Frankreich die bürgerliche Gesellschaft das höfische Erbe besonders kontinuierlich fort.

Menschenschilderer: Saint-Simon, Proust, Balzac, Flaubert, Maupassant.
Klarheit der Menschenbeobachtung, Vermögen Menschen im Ganzen ihrer gesellschaftlichen Verflechtungen zu sehen und aus ihren wechselseitigen Verflechtungen verständlich zu machen.
Die Einzelgestalt wird hier nie aus dem Gewebe ihrer gesellschaftlichen Existenz heraus gelöst. Sie bewahrt in ihrer Schilderung die Atmosphäre und die Plastizität des wirklich Erlebten (S. 377).

Ähnlich, wie mit dieser 'Psychologisierung' verhält es sich mit der 'Rationalisierung', die langsam vom 16. Jahrhundert an spürbar wird. Sie ist nicht ein Faktum, das für sich steht; auch sie ist nur ein Ausdruck für die Veränderung des ganzen Seelenhaushalts, die in dieser Zeit stärker hervortritt, und für die wachsende Langsicht, die von nun ab ein immer größerer Teil der gesellschaftlichen Funktionen züchtet und erfordert.

Exkurs:
Zum Verständnis des geschichtlich-gesellschaftlichen Werdens bedarf es einer Auflockerung der Denkgewohnheiten, mit denen wir groß geworden sind. Es handelt sich bei dieser oft beobachteten geschichtlichen Rationalisierung nicht darum, dass im Lauf der Geschichte, viele einzelne Menschen gleichsam auf Grund einer Art von prästabilisierter Harmonie, von 'innen' her ein neues Organ oder eine neue Substanz entwickeln, einen 'Verstand' oder eine 'Ratio', die bisher noch nicht da war. Es ändert sich die Art, in der die Menschen miteinander zu leben gehalten sind; deshalb ändert sich ihr Verhalten; deshalb ändert sich ihr Bewusstsein und ihr Triebhaushalt als Ganzes. Die 'Umstände', die sich ändern, sind nichts, was gleichsam von 'außen' an den Menschen herankommt; die 'Umstände', die sich ändern, sind die Beziehungen zwischen den Menschen selbst (S. 377).

'Ratio', 'Verstand' oder 'Vernunft' existieren nicht wie die Wortbildung es nahe legt in der gleichen Weise in der etwa Herz und Magen existieren. Sie sind nicht unberührt vom geschichtlich-gesellschaftlichen Wandel. Sie sind Ausdrücke für eine bestimmte Modellierung des ganzen Seelenhaushaltes; es sind Aspekte einer Modellierung, die sich sehr allmählich in vielen Schüben und Gegenschüben vollzieht, und die um so stärker hervortritt, je bündiger und totaler durch den Aufbau der menschlichen Abhängigkeiten spontane Trieb- und Affektentladungen des Individuums mit Unlust, mit Absinken und Unterlegenheit im Verhältnis zu Anderen, oder sogar mit dem Ruin der sozialen Existenz bedroht werden; es sind Aspekte jener Modellierung,mit der sich im psychischen Haushalt schärfer und schärfer Triebzentrum und Ich-zentrum voneinander differenzieren, bis sich schließlich eine umfassende, stabile und höchst differenzierte Selbstzwangapparatur herausbildet. Es gibt nicht eigentlich eine 'Ratio', es gibt bestenfalls eine 'Rationalisierung' (S. 378).


Unsere Denkgewohnheiten machen uns leicht geneigt nach 'Anfängen' zu suchen; aber da ist nirgends ein 'Punkt' in der Entwicklung der Menschen, von dem manfrau sagen könnte: Bisher war noch keine 'Ratio' da und nun ist sie 'entstanden'; bisher gab es noch kein 'Über-Ich' und nun ist es plötzlich da. Es gibt keinen Nullpunkt aller dieser Erscheinungen.

Die Selbstzwangapparatur, der Bewusstseins- und Affekthaushalt 'zivilisierter' Menschen, sie unterscheiden sich als Ganzes in ihrem Aufbau klar und deutlich von denen der so genannten 'Primitiven', aber beides sind in ihrer Struktur klar durchschaubare Modellierungen annähernd gleicher naturaler Funktionen.

Die herkömmlichen Denkmodelle stellen uns immer wieder vor statische Alternativen; es sind gewissermaßen eleatische Modelle, an denen sie geschult sind: Man kann sich nur viele, einzelne Punkte, einzelne sprunghafte Veränderungen vorstellen oder überhaupt keine Veränderung.

Was sich im Verlauf, den wir Geschichte nennen, verändert, sind die wechselseitigen Beziehungen der Menschen und die Modellierung, die der Einzelne innerhalb ihrer erfährt.

Wenn der Blick für diese fundamentale Geschichtlichkeit der Menschen frei wird, eröffnet sich ihm zugleich die Gesetzmäßigkeit, die Aufbaueigentümlichkeit des menschlichen Daseins, die sich gleich bleibt. Jede menschliche Einzelerscheinung ist nur verständlich, wenn manfrau sie im Ganzen dieser steten Bewegung sieht; die Einzelheit ist nicht heraus lösbar; sie bildet sich innerhalb dieses Bewegungszusammenhanges. Als Teil einer bestimmten Stufe oder Welle will sie erfasst sein.

So fehlt es nirgends unter Menschen an gesellschaftlichen Triebregulierungen und -restriktionen oder an einer gewissen Voraussicht. Diese wird umso stärker und umfassender, je größer die Funktionsteilung und damit die Anzahl der Menschen wird, auf die die Handlung eines Einzelnen abgestimmt sein muss.

Und die Art des 'Verstandes' oder des 'Denkens', die dem Einzelnen zur Gewohnheit gemacht wird, ist dementsprechend wie die gesellschaftliche Lage, wie die Stellung im Menschengeflecht, in der er auf- und in die er hinein wächst, ähnlich der Funktion seiner Modelleure (S. 380).

Alle unterschiedlichen Modellierungen sind gerade deswegen verstehbar, weil ihnen die gleiche, menschlich-gesellschaftliche Gesetzmäßigkeit zugrunde liegt.
Die individuellen Differenzen innerhalb all dieser Gruppen (Deutsche, Franzosen etc.), etwa die Unterschiede der 'Intelligenz', sind nichts als Differenzierungen im Rahmen von ganz bestimmten, geschichtlichen Modellierungsformen, Differenzierungen, zu denen die Gesellschaft, je nach seinem Aufbau einen mehr oder weniger großen Spielraum gibt.

Das Phänomen der stark individualisierten 'schöpferischen Intelligenz'.(Anm: bzw. Kreativität)
(Frage:) Was sind die gesellschaftlichen Voraussetzungen dafür?
Das Wagnis des unautoritären, individuell selbstständigen Denkens, die Haltung, durch die sich jemand als ein Wesen von 'schöpferischer Intelligenz' beweist, hat nicht nur ein sehr eigentümliches, individuelles Triebschicksal zur Voraussetzung. Dieses Wagnis ist überhaupt nur möglich bei einem ganz bestimmten Aufbau der Machtapparatur; es hat eine ganz spezifische Gesellschaftsstruktur zur Voraussetzung; und es hängt ferner davon ab, dass dem Einzelnen innerhalb einer Gesellschaft von solcher Struktur diejenige Schulung und diejenigen nicht sehr zahlreichen, gesellschaftlichen Funktionen zugänglich sind, die allein zur Entfaltung dieser individuell selbständigeren Lang- und Tiefsicht befähigen (S. 381).

Ein Wandel im Aufbau der gesellschaftlichen Funktionen erzwingt einen Wandel des Verhaltens.

Die höfische Rationalität (zumeist verkannt) hatte keine geringere, sondern zuerst größere Bedeutung für die 'Aufklärung' (die Entwicklung dessen, was wir 'Aufklärung' nennen), als etwa die städtisch-kaufmännische Rationalität.

Der geschichtliche Prozess der Rationalisierung ist ein Musterbeispiel für eine Art von Vorgängen, die bisher von dem geordneten, wissenschaftlichen Denken kaum oder nur in sehr vager Form erfasst worden sind.

Er gehört in den Bereich einer noch nicht existierenden Wissenschaft, einer historischen Psychologie. Heute wird zwischen der Form der wissenschaftlichen Forschung und der Arbeit des Historikers ein entschiedener Trennstrich gezogen.
Nur die gegenwärtig lebenden Menschen, scheinen einer psychologischen Untersuchung bedürftig und zugänglich. Gerade weil der Psychologe schlechterdings ungeschichtlich denkt, weil er an die psychischen Strukturen der heutigen Menschen herangeht, als ob sie etwas Ungewordenes und Unveränderliches wäre, kann der Historiker mit seinen Forschungsresultaten im allgemeinen wenig anfangen. Und weil der um Fakten bemühte Historiker, psychologischen Problemen nach Möglichkeit zu entgehen sucht, hat er seinerseits dem Psychologen wenig zu sagen (S. 385).

Nicht viel besser steht es mit der Gesellschaftswissenschaft. Soweit sie sich überhaupt mit geschichtlichen Problemen befasst, akzeptiert sie den Trennungsstrich den der Historiker zwischen psychischer Aktivität und deren verschiedenen Erscheinungsformen (Künste, Ideen..) zieht.

Dass es einer historischen Gesellschaftspsychologie, psychogenetischer und soziogenetischer Untersuchungen zugleich bedarf, um die Verbindungslinie zwischen allen diesen verschiedenen Äußerungen der Menschen und ihrem gesellschaftlichen Dasein zu ziehen bleibt unerkannt (S. 386).

Geschichte und Geist erscheinen als verschiedene Gebilde. Gesellschaft jenseits der Ideen und Ideen jenseits der Gesellschaft? Streit darum was was bewegt (Idealismus-Materialismus).

Der Zivilisationsprozess und innerhalb seiner auch die Erscheinungen, wie die allmähliche Psychologisierung und Rationalisierung, sie fügen sich nicht in dieses Schema (Was bewegt was?). Es hat ganz gewiss keinen Sinn, sich zu fragen, ob der allmähliche Übergang von weniger rationalen zu rationaleren Denk- und Verhaltensweisen die Gesellschaft verändere; denn dieser Rationalisierungsprozess ebenso, wie der umfassendere Zivilisationsprozess, ist selbst eine psychische und eine gesellschaftliche Erscheinung zugleich.

Aber es hat ebenso wenig einen Sinn, den Zivilisationsprozess etwa als einen 'Überbau' oder als eine 'Ideologie', nämlich allein aus seiner Funktion als Waffe im Kampfe einzelner sozialer Gruppen und Interessen gegen andere zu erklären (S. 386).

Die allmähliche Rationalisierung und die gesamte zivilisatorische Transformation vollzieht sich ständig im Zusammenhang mit Auseinandersetzungen verschiedener Schichten und Verbände.

Das abendländische Beziehungsgeflecht ist nicht eine ursprünglich harmonistische Ganzheit, in die nur zufällig, durch bösen Willen oder Unverstand einzelner Menschen Konflikte hinein getragen werden.

Spannungen und Kämpfe bilden ein integrales Element seiner Struktur.
Zivilisationsschübe vollziehen sich auf Grund von mächtigen Verflechtungsmechanismen, deren Gesamtrichtung zu ändern nicht in der Hand einzelner Gruppen liegt.

Sie entziehen sich einer bewussten oder halb- bewussten Manipulierung, einer überlegten Verarbeitung zu Waffen in den sozialen Kämpfen, in ganz anderem Maße als etwa die Denkgehalte.

Wie die Gestalt des ganzen, psychischen Habitus, so bilden sich auch die spezifischen Zivilisationsstrukturen zugleich als Produkt und als ein Hebel im Getriebe jener umfassenden Gesellschaftsprozesse heraus, innerhalb deren sich auch einzelnen Schichten und Interessen von wechselnder Gestalt selbst bilden und umbilden.

Die zivilisatorische Transformation und mit ihr auch die Rationalisierung ist nicht ein Vorgang einer Sondersphäre der 'Ideen' oder 'Gedanken'. Hier hat manfrau es nicht mehr allein mit Transformationen des 'Wissens', mit Wandlungen von 'Ideologien', kurz mit Veränderungen der Bewusstseinsgehalte zu tun, sondern mit den Veränderungen des gesamten menschlichen Habitus, innerhalb dessen die Bewusstseinsgehalte und erst recht die Denkgewohnheiten nur eine recht partiale Erscheinung, nur einen einzelnen Sektor bilden.

Hier handelt es sich um Gestaltwandlungen des ganzen Seelenhaushalts durch all seine Zonen von der bewussteren Ichsteuerung bis zu völlig unbewussten Triebsteuerung hin.
Zur Erfassung von Wandlungen dieser Art reicht das Denkschema von 'Überbau' und 'Ideologien' nicht mehr aus (S. 388). (Anm.: Anspielung auf Marx und Mannheim).

Die geistesgeschichtliche oder auch die wissenssoziologische Forschung sucht den Menschen vor allem von der Seite des Wissens und Denkens her anzugreifen. Gedanken und Ideen scheinen im Lichte solcher Forschungen als am wichtigsten. Und die unbewussteren Antriebe, das gesamte Feld der Trieb- und Affektstrukturen bleibt für sie mehr oder weniger im Dunkel.

Wer sich aber nur auf Ratio und Ideen konzentriert und den Aufbau der Triebe und die Richtung der Affekte nicht in Betracht zieht ist in der Fruchtbarkeit begrenzt.

Die Rationalisierung der Bewusstseinsgehalte selbst und die gesamten Strukturwandlungen der Ich- und Überichfunktionen, all diese Erscheinungen sind nur sehr unvollkommen angreifbar, solange sich die Untersuchung an Bewusstseinsgehalte, an Ich und Überichstrukturen allein zu halten sucht und dem korrespondierenden Wandel der Trieb- und Affektstrukturen keine Beachtung schenkt.
Wirklich verstehen lässt sich auch die Geschichte der Ideen und Denkformen nur dann, wenn manfrau, mit dem Wandel der zwischenmenschlichen Beziehungen, zugleich den Aufbau des Verhaltens, das Gefüge des Seelenhaushalts als Ganzes ins Auge fasst (S. 389).

Eine umgekehrte Akzentuierung findet manfrau heute oft in der psycho- analytischen Forschung. Sie neigt dazu etwas 'Unbewusstes', ein geschichtslos gedachtes 'Es' aus dem Seelengefüge als das Wichtigste heraus zugreifen.

Manfrau unterscheidet nicht zwischen dem rohen naturalen Triebmaterial und den soziogenen Triebrichtungen, die sich von den korrespondierenden Ich- und Überichstrukturen nicht absondern lassen.

Maßgebend für einen Menschen, ist weder allein ein 'Es', noch allein ein 'Ich' oder 'Überich', sondern immer und von Grund auf die Beziehung zwischen diesen, teils miteinander ringenden, teils mit einander kooperierenden Funktionsschichten der psychischen Selbststeuerung, wie die Gestalt seiner Ich- und Überichsteuerung, sie wandelt sich als Ganzes im Laufe des Zivilisationsprozesses entsprechend einer spezifischen Transformation der Beziehungen zwischen den Menschen, der gesellschaftlichen Beziehungen. Im Laufe dieses Prozesses wird, um es schlagwortartig zu sagen, das Bewusstsein weniger triebdurchlässig und die Triebe weniger bewusstseinsdurchlässig.

Mit dem soziogenetischen Grundsatz kann manfrau gleich gerichtete Prozesse heute bei jedem einzelnen Kind beobachten: Erst mit der Herausbildung von weniger triebdurchlässigen Bewusstseinsfunktionen erhalten die Triebautomatismen mehr und mehr jenen Charakter, den manfrau ihnen heute gewöhnlich als eine geschichtslose, eine rein 'naturale' Eigentümlichkeit zuschreibt, den Charakter des 'Unbewussten'. Und im Zuge der gleichen Transformation wandelt sich das Bewusstsein selbst in der Richtung einer zunehmenden 'Rationalisierung' (S. 391).

Manfrau kann die Gestalt und die Struktur niemals verstehen oder beobachten, wenn manfrau sie sich als etwas getrennt voneinander Bestehendes oder Funktionierendes vorstellt.
Beide sind gleich wesentlich; beide bilden einen Funktionszusammenhang. Man kann sie nur verstehen im Zusammenhang mit der Struktur der Beziehungen zwischen den Menschen und mit der Verflechtungsordnung, in der diese, die gesellschaftlichen Strukturen, sich wandeln.

Daher verlangt der Zivilisationsprozess eine Untersuchung zugleich des ganzen psychischen und des ganzen gesellschaftlichen Gestaltwandels.
Er verlangt, im engeren Radius, eine psychogenetische Untersuchung und im weiteren Radius eine soziogenetische Untersuchung (S. 392).

Zum Verständnis der gesellschaftlichen Strukturen und Prozesse genügt ebenfalls niemals die Untersuchung einer einzelnen Funktionsschicht innerhalb eines sozialen Feldes. Diese Strukturen und Prozesse verlangen, um wirklich verständlich zu werden, eine Untersuchung der Beziehungen zwischen den verschiedenen Funktionsschichten. Es gilt also, wie bei jeder psychogenetischen Untersuchung, nicht allein die psychische Funktionsschicht des 'Unbewussten' oder allein die des 'Bewusstseins' zu betrachten, sondern den ganzen Kreislauf (das Ganze eines sozialen Feldes) der psychischen Funktionen ins Auge zu fassen.

Das zu tun ist nur möglich, weil das gesellschaftliche Gewebe und sein geschichtlicher Gestaltwandel nicht ein Chaos ist, sondern, auch in Phasen der größten, sozialen Unruhe und Unordnung, eine klare Ordnung und Struktur besitzt. Das Ganze eines sozialen Feldes untersuchen, heißt nicht, alle Einzelvorgänge innerhalb seiner untersuchen.
Es heißt zunächst einmal, die Grundstrukturen aufdecken, die allen Einzelvorgängen innerhalb dieses Feldes ihre Richtung und ihr spezifisches Gepräge geben. Es heißt z.B. etwa sich die Frage vorzulegen, worin sich die Spannungsachsen, die Funktionsketten und Institutionen einer Gesellschaft des 15. Jahrhunderts von denen des 16. u. 17. Jahrhunderts unterschieden, und warum sich jene in der Richtung auf diese hin wandelten.

Von einem bestimmten Stand der Materialkenntnis ab lässt sich mit einem Wort in dem unendlichen Haufen der einzelnen, geschichtlichen Fakten ein festeres Gerüst, ein Strukturzusammenhang erkennen (S. 393).

Jede soziogenetische Untersuchung müsse hin auf das Ganze eines sozialen Feldes ausgerichtet sein, so heißt das nicht: auf die Summe aller Einzelheiten, sondern auf das Ganze seiner Struktur (S. 393).

(Anm.: Elias kommt nun zum Kern dieser Sache, der Rationalisierung).

In diesem Sinne ist zu verstehen was oben über Rationalisierung gesagt wurde. Der allmähliche Übergang zu einem 'rationaleren' Verhalten und Denken, ebenso wie der zu einer stärkeren Selbstkontrolle, wird heute meist allein mit bürgerlichen Funktionen in Zusammenhang gebracht.

Manfrau findet in den Köpfen der Mitlebenden oft die Vorstellung verfestigt, das Bürgertum sei der 'Urheber' oder der 'Erfinder' des rationaleren Denkens. So wenig die höfische Aristokratie oder das Bürgertum der Manufakturzeit selbst einen 'Urheber' in irgendeiner anderen sozialen Schicht hat, so wenig hat dieser Rationalisierungsschub einen solchen Urheber.

Was rationaler wird, das sind nicht nur einzelne Produkte des Menschen; das sind vor allem nicht nur die in Büchern niedergelegten Gedankensysteme.

Was sich rationalisiert, das sind zunächst einmal und in erster Linie die Verhaltensweisen bestimmter Menschengruppen. 'Rationalisierung' (z.B. Verhöflichung der Krieger) ist nichts anderes als ein Ausdruck für die Richtung, in der sich das Gepräge der Menschen in bestimmten, gesellschaftlichen Formationen selbst während dieser Periode ändert.

Wandlungen dieser Art aber haben nicht in der einen oder der anderen Schicht ihren 'Ursprung', sondern sie entstehen im Zusammenhang mit den Spannungen zwischen verschiedenen Funktionsgruppen eines sozialen Feldes und zwischen den konkurrierenden Menschen innerhalb ihrer.
Unter dem Druck von Spannungen dieser Art, die das gesamte Gewebe der Gesellschaft durchziehen, ändert sich deren gesamte Struktur in der Richtung einer zunehmenden Zentralisierung einzelner Herrschaftsgebiete und einer reicheren Spezialisierung, einer strafferen Integrierung der einzelnen Menschen darin.
Und mit dieser Transformation des ganzen, sozialen Feldes wandelt sich der Aufbau der sozialen und psychischen Funktionen zugleich im Sinne einer Rationalisierung (S. 395).

Einzelne Phänomene:
Langsame Entmachtung des ersten Standes.
Pazifizierung des zweiten Standes.
Allmähliches Aufrücken des dritten Standes.

Diese lassen sich nicht unabhängig voneinander verstehen. Alles das sind Hebel in jenem umfassenden Prozess der zunehmenden Differenzierung und Verlängerung aller Aktionsketten. Mit dem allmählichen Wandel der gesellschaftlichen Funktionen (Adelsfunktionen, bürgerliche Funktionen ...) geht ein Wandel der psychischen Selbststeuerung in der Richtung einer größeren Langsicht und stärkerer Regelung der triebhaften Augenblicksimpulse (S. 395).

In herkömmlichen Darstellungen wird die Vorstellung genährt, dass die Rationalisierung des Bewusstseins ihre Ursache in dem Auftauchen einer Reihe von genialen und besonders klugen Individuen habe. Nach diesen Darstellungen brachten erleuchtete Individuen, auf Grund ihrer überragenden Intelligenz, den Menschen des Abendlandes bei, wie ihre angeborene Vernunft richtig zu gebrauchen sei.

Elias sieht es anders. Was die großen Denker des Abendlandes zum Ausdruck gaben war, dass sie anderen Menschen eine größere Klarheit über ihre Welt und sich selbst vermittelten. Sie wirkten so als Hebelarme mit ein. Sie waren, je nach ihrer Größe und ihrer persönlichen Lagerung, in höherem oder geringeren Umfang die Interpreten und Sprecher eines gesellschaftlichen Chores.

Aber sie waren NICHT die Urheber des Denktypus, der in ihrer Gesellschaft vorherrschte. Sie waren NICHT die Schöpfer dessen, was wir 'rationales Denken' nennen (S. 396).

Dieser Ausdruck selbst ist statisch und undifferenziert. In der 'Rationalisierung' zeigt sich nur eine Seite einer umfassenderen Wandlung des gesamten Seelenhaushalts. Sie geht Hand in Hand mit einer korrespondierenden Wandlung der Triebstrukturen.

Sie ist kurz gesagt, eine Zivilisationserscheinung unter anderen (S. 397, Band II).

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