20070603

Dahrendorf Weltbürgerschaft sk-39

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Was ist wichtig? Den Menschen in den bisher benachteiligten Teilen der Welt zu helfen, den Weg zu freien Bürgergesellschaften zu finden. Diese Länder brauchen nicht nur ein größeres wirtschaftliches Angebot, sondern auch die vollen Anrechte des Bürgerstatus und beide müssen in einem breiten Spektrum von Assoziationen und autonomen Institutionen verankert werden.

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Hinweis auf Quelle bzw. verwendete Literatur:
Der moderne soziale Konflikt von Ralf Dahrendorf,
Stuttgart 1992 (1), München 1994, dtv Taschenbuch,
Textauswahl für dieses Blog: Transitenator
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Regierungen können helfen, den Angebotsprozess in Gang zu bringen; internationale Organisationen können bürgerliche Anrechte stabilisieren helfen. Alles übrige ist die Aufgabe von nationalen und internationalen 'Ngos' also Nicht-Regierungs-Organisationen.

Unterklasse und dritte Welt Probleme haben gemeinsame Merkmale. Allerdings ist die Mehrheit der Menschheit arm und unterprivilegiert. Für sie alle gilt, dass makroökonomische Maßnahmen nur begrenzte Erfolge versprechen.

Bürgergesellschaften lassen sich nicht aufrecht erhalten, es sei denn, wir verstehen sie als Schritte auf dem Weg zu einer Weltbürgergesellschaft.

Dahrendorf zitiert Kant (1784, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht).
Das entscheidende Zitat in Kants viertem Satz: "das Mittel, dessen sich die Natur bedient, die Entwicklung aller ihrer Anlagen zu Stande zu bringen, der Antagonismus derselben in der Gesellschaft (ist), so fern dieser doch am Ende die Ursache einer gesetzesmäßigen Ordnung derselben wird".

Kant führt dann den Begriff der 'ungeselligen Geselligkeit' des Menschen ein, die als Antrieb wirkt, um Arkadien zu verlassen und dem Dasein einen größeren Wert zu verleihen, als es das der dort geweideten Schafe hat.

"Dank sei also der Natur für die Unvertragsamkeit, für die missgünstig wetteifernde Eitelkeit, für die nicht zu befriedigende Begierde zum Haben oder auch zum Herrschen!"

Konflikt ist die Quelle des Fortschritts zur Zivilisation und am Ende zur Weltbürgerschaft. (Anmerkung: Hallekantja!) Da der Wille des Menschen frei ist, lässt sich nicht von einem ausdrücklichen gemeinsamen Zweck des menschlichen Handelns sprechen; in der Tat erleben wir vornehmlich Widerspruch, ja Chaos.

Dahrendorf: "Doch es könnte immerhin sein, dass es in diesem Chaos eine verborgene 'Naturabsicht' gibt und daher Hinweise auf den Sinn des Ganzen" (S. 282).
Die natürliche Fähigkeit des Menschen ist die Vernunft, aber sie wird nur in der Gattung und nicht in irgendeinem einzelnen Individuum voll entfaltet.

Der Prozess der Entfaltung wird überdies das Werk von Menschen in und durch Gesellschaft sein (S. 283).
Der Antagonismus führt Kant zu seinem fünften Satz: "Das größte Problem für die Menschengattung, zu dessen Auflösung die Natur ihn zwingt, ist die Erreichung einer allgemein das Recht verwaltenden bürgerlichen Gesellschaft".
Die menschliche Ungeselligkeit treibt die Geschichte voran, aber sie verlangt auch die Bändigung durch Verfassungen, also einen Gesellschaftsvertrag.

Die Geschichte also bei Kant als die Realisierung eines verborgenen Plans der Natur (S. 283). Heute stellt sich die Frage, ob die Menschheit nicht eher sich selbst zerstört als dass sie zu einer Weltgesellschaft zusammenfinden wird.
Kant fehlte es nicht an Selbstkritik.

Kants Ansatz war es nicht zu sagen, dass die Geschichte so und nicht anders verlaufen muss, sondern zu fragen,was denn zu geschehen hätte, wenn wir annehmen, dass Menschen größere Lebenschancen in einer ungewissen Welt suchen.

Bürgerrechte, der Bürgerstatus, die Bürgergesellschaft sind wichtige Schritte auf dem Weg, der sich aus einer solchen Fragestellung ergibt. Sie sind Errungenschaften der Zivilisation, immer wieder gefährdet, immer wider unvollkommen.
Diese Errungenschaften bleiben jedoch solange unbefriedigend, ja verstümmelt, wie sie mit dem Ausschluss anderer verbunden sind.

Die Unterklasse, die Dritte Welt, die Unterdrückung von Minderheiten, der Krieg gegen andere, Andersartige, Anders denkende verletzen das Prinzip der Bürgerfreiheit selbst dort noch, wo dieses verteidigt wird.
Der moralische Anspruch der Freiheit, wie sie in diesem Essay von Dahrendorf verstanden wird, ist nicht nur absolut, sondern auch universell. Es gibt daher keine wirkliche Freiheit für irgend jemanden, solange es nicht Freiheit für alle gibt. Der Optimismus der Aufklärung mag uns abhanden gekommen sein; ihr Anspruch gilt heute so wie vor zweihundert Jahren (S. 284).

Die praktische Frage, wie manfrau dem notwendigen Ziel näher kommen kann. Der heterogene Nationalstaat ist einstweilen der verlässlichste Rahmen, der für die Bürgergesellschaft gefunden worden ist. Aber er schließt auch aus. Er muss daher überwunden werden. Wie?

Die drei Wege sind nicht originell aber wichtig.

Kant spricht von der 'allgemein das Recht verwaltenden bürgerlichen Gesellschaft'. Das Recht- der Rechtsstaat- ist das kostbarste Element des liberalen Nationalstaates. Die Frage ist, wie es sich über dessen Grenzen hinaus entwickeln lässt, und zwar als Recht im vollen Sinne des Begriffs, nicht als ein so genanntes zahnloses Völkerrecht, das die willfährige Magd politischer Interessen bleibt (S. 284).

Anfänge eines supranationalen Rechts, europäische Menschenrechtskonvention, Helsinki Akte, Charta der Vereinigten Nationen tragen bei zur Entstehung von Gewohnheiten quasi-rechtlichen Verhaltens.
Zum Richter gehört auch der Henker, das heißt die Instanz, die Sanktionen verhängt. Jeder Schritt in die Richtung einer Schaffung eines effektiven internationalen Rechts ist willkommen.

Der zweite Weg führt über internationale Organisationen. Angebotsorganisationen machen aber halt vor Anrechtsfragen. So kommt es, dass Weltbank und IWF eher dazu beitragen Diktatoren zu bereichern als Bürgerrechte durchzusetzen.
Internationale Organisationen sind wichtige Merkposten für eine künftige Weltregierung. Sie haben Bedeutung in dem Maße als sie zu Anrechtsorganisationen werden, also zum Beispiel Menschenrechtsforderungen mit Wirtschaftshilfe verbinden.

Der dritte Weg bringt uns nochmals zur Bürgergesellschaft, insbesondere zu den privaten Organisationen. Das Fehlen einer europäischen Bürgergesellschaft ist eine der großen Schwächen der EG. Das Vakuum wird gefüllt durch nicht-staatliche Assoziationen.

Das Projekt bleibt höchst zerbrechlich. Nicht alle lesen Kant, schlimmer noch, viele wollen ihn nicht lesen. Sie ziehen Rousseau vor und Hegel und vor allem die minderen Autoren und die Demagogen, die ihnen ein totaleres Angebot an Bindung machen. Das Projekt der Weltbürgergesellschaft ist am Ende des 20en Jhs in erster Linie eine Erinnerung an die Werte, die es zu verteidigen gilt (S. 286).


Strategische Veränderungen

Wie kommt manfrau von hier nach dort? Was die Richtung betrifft, so wurden Hinweise in diesem Kapitel gegeben. Doch es bleibt die methodische Frage. Wie sind die Aufgaben anzupacken, die auf der Agenda für Liberale stehen?

Nicht alle Bewohner von Dahrendorfs Pantheons der Helden waren Urheber strategischer Veränderungen. Sie waren eher nachdenkliche Menschen. Wichtig ist die Substanz des Rates, den die hier angepriesenen Männer zu geben hatten. Diese war radikal und konservativ.

Es geht darum, dass spezielle Reformen vorgeschlagen werden, die nach allen Maßstäben radikal sind, diese aber den Rahmen nicht sprengen, in dem in gegebenen Umständen gehandelt wird, und insoweit konservativ bleiben. Der 'institutionelle Liberalismus' weist in eine ähnliche Richtung.

Politik heißt für Hirschmann 'Stimme', also Protest, und nicht Handeln oder Veränderung. Er erweckt zumindest den Anschein, als sähe er die Welt vom Standpunkt der Opfer, der Armen und Getretenen. Deren Schicksal war für Keynes nicht weniger wichtig, doch sah er sie aus einer ganz anderen Perspektive. Keynes suchte stets nach Hebeln des Handelns 'von oben'. Der Gedanke, dass die Schaffung von Wohlstand die Hauptaufgabe der Herrschenden sei wurde 1919 geboren.

In Keynes Allgemeiner Theorie gibt es ohne effektive Nachfrage keine Vollbeschäftigung und damit keine effektive Ausnützung der wirtschaftlichen Ressourcen. Effektive Nachfrage aber stellt sich nicht automatisch ein; sie verlangt unter Umständen staatliches Handeln einschließlich von Maßnahmen der Umverteilung.

Keynes: "Die hervorstechendsten Mängel der Wirtschaftsgesellschaft, in der wir leben, liegen in ihrem Versagen bei der Schaffung von Vollbeschäftigung und in ihrer willkürlichen und ungerechten Verteilung von Wohlstand und Einkommen". Er empfahl starke Rezepte: Er verlangte also, dass die Anrechtsstrukturen verändert werden um das Angebot zu steigern.

Der kritische Begriff bei Keynes ist der einer Steuerung der effektiven Nachfrage. Es reicht nicht, sich allein auf die Angebotsseite und das Wirken des Marktes zu verlassen; soziale und politische Veränderungen müssen benutzt werden, um Wirtschaftswachstum anzuregen, indem die Menschen in die Lage versetzt werden, mehr nachzufragen.

Damit will jetzt Dahrendorf keine Nachfragesteuerung nahe legen. Keynes hat später (1940) einen Plan entwickelt, der eine Zeit der allgemeinen Opferbereitschaft (nach einem Krieg?) als willkommene Gelegenheit sieht, bei der Reduktion von Ungleichheiten voranzugehen (S. 291).

In den armen Ländern der Welt liegt das Schlüsselproblem in der Verbindung von Wirtschaftsentwicklung und Bürgerstatus. Gründung von Genossenschaften, Varianten der Privatisierung, privates Kleingewerbe, Gewinnbeteiligung, Mitbestimmung. Vielleicht gibt es strategisch noch wirksamere Bindeglieder zwischen Bürgerrechten und einem wachsenden Angebot. Dazu könnte das garantierte Grundeinkommen zählen, aber auch eine Zeitsteuer durch einen allgemeinen Zivildienst.

Michail Gorbatschow ist gescheitert mit dem Versuch, Meinungsfreiheit (Glasnost) und wirtschaftliche Umstrukturierung (Perestroika) zu verbinden. Wie kann manfrau Demokratie und Marktwirtschaft gleichzeitig etablieren.? Wo liegen die strategischen Hebel für diese Verbindung? Ist es die Privatisierung oder die Freigabe der Preise?

Sind die Rezepte möglicherweise von Land zu Land verschieden?

Ein neuer Keynesdie Lösung? Manfrau wird den Propheten daran erkennen an der Fähigkeit, strategische Reformen vorschlagen zu können. Diese lassen sich nunmehr klar definieren. Es handelt sich um Maßnahmen der Veränderung, insofern um Reformen, die an einem spezifischen Punkt ansetzen, diesen jedoch so wählen, dass von ihm aus weitreichende, gar nicht voll absehbare Wirkungen ausgehen.

Dabei handelt es sich typischerweise um Punkte auf der Grenzlinie von Politik und Ökonomie, von Anrechten und Angebot. Jedenfalls gilt das für strategische Veränderungen zugunsten größerer Lebenschancen für mehr Menschen. Hier könnte die Kraft von garantiertem Grundeinkommen liegen.

Strategische Veränderungen sind also praktische Weisen der Vergrößerung von Lebenschancen durch das Handeln der Verantwortlichen.
Sie setzen das gesamte Arsenal der Kritik an den Sozialingenieuren der Utopie voraus, das Popper so reich bestückt hat; es geht eben nicht darum, "das Ganze der Gesellschaft nach einem bestimmten Plan oder Schnittmuster um zu modeln" (Karl Popper, das Elend des Historizismus). Andererseits ist strategische Veränderung mehr als Poppers 'stückweise Sozialtechnologie'.

Auch abgesehen von der eher unglücklichen Wortwahl - die eine rein technische Qualität politischer Entscheidungen unterstellt-, legt das stück- oder schrittweise Vorgehen reaktives und nicht konstruktives Handeln nahe. Auch impliziert es ein Tempo des Wandels, das in kritischen Situationen zu langsam sein könnte.

Poppers Begrifflichkeit ist von den Pragmatikern aufgenommen worden, denen die Methode des Handelns wichtiger war als das Ziel.

Der Begriff 'strategischer Veränderungen' unterscheidet sich offenbar von den im Elend des Historizismus entwickelten Begriffen.
Strategisches Handeln schließt einen Richtungssinn ein und begnügt sich daher nicht mit 'Vorsicht und Vorbereitetsein auf unvermeidliche Überraschungen'.
Der Richtungssinn ist nicht nur formal zu verstehen und die Methoden der Realisierung sind mehr als nur technischer Art.

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