20070501

Weltkriege, Proletariat, Totalitarismus, Dahrendorf sk-20

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1914 war in Europa Scheitelpunkt eines lang andauernden Wirtschaftsaufschwungs. Niemand zweifelte an der Realität des Klassenkampfes. Fortschrittliche liberale Parteien wandten sich der sozialen Frage zu. Veränderung lag in der Luft.

28. Juni 1914 Erzherzog Franz Ferdinand von Österreich wird ermordet. Manche sprechen von einem begrenzten Krieg auf dem Balkan. Das Reden vom Krieg weckt schlafende Hunde. In den letzten Julitagen waren die europäischen Hauptstädte sich einig, dass Krieg unvermeidlich geworden war.

Edward Grey (britischer Außenminister): "Die Lichter gehen aus in Europa".

Die Geschichte und die Folgen des Juli 1918 lassen sich nicht einfach als Teil des modernen sozialen Konflikts beschreiben. Der erste Weltkrieg war nicht einfach ein imperialistischer Exzess profithungriger Kapitalisten. Wenn je die Wirtschaft zur Magd der Politik geworden ist, dann in der Zeit von 1914 bis 1945.
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Quelle: Der moderne soziale Konflikt von Ralf Dahrendorf, Stuttgart 1992 (1), München 1994, dtv Taschenbuch, Exzerpt: transitenator
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Dahrendorf spricht von dieser Zeit (1914-1945) als 'Zweitem Dreißigjährigen Krieg'. Es mussten Hindernisse auf dem Weg der Modernität, der Ausweitung der Bürgerrechte, der Erweiterung von Lebenschancen und Freiheit auf explosive und gewaltsame Weise beseitigt werden (S. 115). Eines der Lichter das ausging in Europa war die revolutionäre Illusion.

Hoffnung ist eine unverzichtbare Bewegkraft des Handelns. Die revolutionäre Illusion dagegen verbindet den Glauben an den unaufhaltsamen Marsch des Fortschritts mit der Fata Morgana der Utopie. Sie lockt Menschen heraus, aus der wirklichen Welt fort von der Freiheit.

Für viele lag der Schlüssel zu solchen übertriebenen Hoffnungen im Begriff des Proletariats. Marx ist verantwortlich dafür, dass viele einen Weg von der Realität zur Utopie sahen. (Siehe dazu Dahrendorfs essentielle Kurzschilderung des Marxschen Weges (S. 115 u. 116).

Die Proletarier aller Länder werden aufgerufen sich zu vereinen. Statt dessen stimmten die parlamentarischen Vertreter des Proletariats für die Kriegskredite auf beiden Seiten der Front, Frankreichs und Deutschlands. Statt eine ganz andere Welt zu schaffen, zogen die Arbeiter für die bestehende Welt in die Schlacht.

Dahrendorf frägt: Wann haben die Armen und Getretenen dieser Erde je eine Welt nach ihrem Bilde geschaffen? Er antwortet: Die Armen suchen einen Platz an der Sonne von heute, nicht im künstlichen Licht einer unbekannten Welt. Wer ihnen sagt, dass sie die Zukunft in ihren Händen tragen, gibt ihnen weder Brot noch ein Dach über den Kopf.

Die industrielle Arbeiterklasse und ihre Organisationen waren gewiss eine Kraft des Wandels, aber dieser Wandel bedeutete die Entfaltung eines Prinzips, das schon wirklich war, des Prinzips der Bürgerrechte. Zwischen 1914 und den 1930 er Jahren verschwand das Proletariat als Leitstern der Hoffnung auf eine andere Welt.

Die Gründe für das Verschwinden des Proletariats weisen auf wichtige Sozialentwicklungen hin.

1. Diejenigen die die neue Welt des Proletariats besangen wussten wenig über die wirklichen Einstellungen arbeitender Menschen. Arbeiter sind nämlich eher intolerant, nationalistisch (als internationalistisch), kritisch (gegenüber Liberalen), Schutz suchend (als freiheitsliebend und offen).

Untere Schichten sind relativ autoritär, finden extreme Bewegungen attraktiver als gemäßigte und demokratische, werden durch den Mangel an innerer Demokratie nicht abgeschreckt.

Lipset zeigte, dass intolerante und extremistische Bewegungen mit größerer Wahrscheinlichkeit aus den unteren Schichten hervorgehen. Ein Dilemma für die Intellektuellen der demokratischen Linken die geglaubt hatte, dass das Proletariat notwendig eine Kraft der Freiheit, der Rassengleichheit und des sozialen Fortschritts ist.

2. Desillusionierung über die Organisation der Arbeiterbewegung. Robert Michels (Soziologie der politischen Parteien, 1911) These besagte, dass sozialistische Parteien sich nicht wesentlich von anderen Parteien und politischen Organisationen unterscheiden.

Diese Einsicht hatte viele Folgen. "Wer immer Organisation sagt, statuiert eine Tendenz zur Oligarchie". Massen selber können nicht führen, wenn sie aber Parteien und Gewerkschaften bilden werden sie von einer Minderheit geführt.

Eine Partei ist eben eine Partei. Er kam zu dem Schluss, dass die Arbeiterbewegung zum Teil des normalen politischen Prozesses geworden ist. Das war die Geburt der Sozialdemokratie (Georg Lukàcs bedauerte den Prozess der realen politischen Organisation, 1922, der das Proletariat zu einem bloßen Bestandteil der kapitalistischen Gesellschaft mache und nicht zum Motor zu ihrem Untergang und Vernichtung.

Das Wort 'Masse' wird in den 20ern zu einem Modewort. Die angeblich atomisierten Massen wurden als Geißel der Modernität entdeckt (Gustave LeBons Psychologie der Massen, José Ortegas y Gasset : Aufstand der Massen, Theodor Geiger: Die Masse und ihre Aktion, Sigmund Freunds Massenpsychologie.

3. Ein Teil der Arbeiterbewegung stieg in eine mittelständische Existenz auf. Das Wort 'Verbürgerlichung' kam in Umlauf. Jedenfalls musste die These von Marx, wonach im Laufe der Zeit das Proletariat zu einer großen homogenen Klasse werden würde, als widerlegt gelten. Fortschritt in der Industrie. Unterscheidung von an-, un-, gelernten, Arbeitern.

4. Fortschritt der Industrie und allgemeine Wirtschaftsentwicklung führten zu einem massiven Anwachsen des Mittelstandes von privaten und öffentlichen Angestellten. Diese Angestellten waren nicht einfach ein Puffer zwischen Großkapital und Proletariat (Emil Lederer u. Jakob Marschak, Studie des neuen Mittelstandes, 1926) sondern hatten ihre eigene sozialpolitische 'Mentalität' (Theodor Geiger).
Diese führte sie zur Unterstützung einer Partei die sich sowohl gegen die Herrschaft des Kapitals als auch die proletarische Revolution wendete, der Nazipartei.

5. Auch ein beharrliches Überleben des 'alten Mittelstandes' von selbständigen Handwerkern und Kleinunternehmern und Landwirten.
Tatsächlicherweise wuchs die Arbeiterklasse schon bis sie 50 % der Bevölkerung umfasste. Aber andere Schichten wuchsen noch rascher.

Seit den zwanziger Jahren gab es zwei Arten von Sozialismus. Sozialdemokratie und sowjetische Erfahrung. Damit eine Spaltung der Arbeiterbewegung freier Länder. Auch die gnadenlosen Attacken von Kommunisten auf Sozialdemokraten schürten Zweifel.

Was war die Bedeutung dieser Entwicklungen?

Schon oben wurde die Ausweitung der Bürgerrechte auf zuvor Unterprivilegierte durch die Verbindung von sozialem Druck und strategischer politischer Reform beschrieben. Die Arbeiterklasse war zu einem 'machtvollen, selbstbewussten, wohl konstruierten Glied der Gesellschaft' geworden.

Damit verbesserte sie ihre eigene Lebenslage und wandelte den Charakter der bürgerlichen Ökonomie in bedeutsame Richtung (so Karl Renner, Austromarxist, erster Präsident der Republik Österreich in einer 1945 veröffentlichten rückblickenden Analyse).

Das Verschwinden des Proletariats hinterließ ein Vakuum in den Köpfen von Intellektuellen. Manche 'verdampften die Realität' und dankten als politische Kraft ab.

Doch bleiben Intellektuelle Seismographen des sozialen Wandels und manchmal sind sie Fermente oder Katalysatoren. Intellektuelle haben einen wichtigen Ort in jeder liberalen Lösung des Problems der modernen Politik, weil sie die Interessen sozialer Bewegungen in die Sprache der Entscheidungsträger übersetzen, Entscheidungen der Öffentlichkeit verständlich machen und zu alledem einen Abstand halten zu Führern wie Bürokraten und den Interessen des Volkes. Das gilt nur, wenn sie diesen Abstand auch einhalten.

Die Geschichte des 'zweiten 30jährigen Krieges' war eine Geschichte des intellektuellen Verrates wie der illiberalen Politik. Die revolutionäre Illusion selbst war eine Form des Verrats der Intelligenz. Überzogene Hoffnungen und Utopien ebnen den Weg für Ideologie und Tyrannei.

Das verschwindende Proletariat hinterließ ein Vakuum. Immer wieder werden von Autoren Revolutionen ausgerufen. Intellektuelle spielen in zunehmenden Maße eine zentrale Rolle im Weltbild der Intellektuellen. (Karl Mannheims freischwebende Intelligenz als Subjekt der Hoffnung? War er selbst freischwebend? (so Dahrendorf).

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