Demokratiserung Sozialstaat Bürokratie sk-28
Tweet this!Was sind die bleibenden Resultate dieser Reformen? Manche blieben bloße Worte, die Veränderung der Sprache ebnete den Weg für einen Wertwandel.
Eine Tatsache fällt ins Auge. Sie liegt in dem enormen Anwachsen der Zahl der öffentlichen Bediensteten in dieser Periode.
Die Revolution von 1968 war eine Revolution des öffentlichen Dienstes. Das beschreibt die Dauerwirkungen der Reformen der 60er Jahre und frühen 70er Jahre.
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Hinweis auf Quelle bzw. Literatur: Der moderne soziale Konflikt von Ralf Dahrendorf, Stuttgart 1992 (1), München 1994, dtv Taschenbuch, Exzerpt: transitenator-o-o-o-
Die Zahl der im öffentlich Dienst beschäftigten, die in analogen Arbeitsverhältnissen, Pensionsempfänger aus diesem Sektor (öffentlicher Dienst) und deren Familienmitglieder. Diese wuchsen anteilsmäßig von 1965 bis 1975 um mehr als 35%.Die Zahl der höheren Beamten hat sich innerhalb eines Jahrzehnts verdoppelt. So die Situation in Deutschland.
Für Schweden wurde 1985 berechnet, dass 54% aller schwedischen Wähler ihr Einkommen vom Staat beziehen, 28% als öffentlich Bedienstete und 26% als Bezieher von Transfereinkommen.
Gründe für diesen Prozess:
1. Ein rasch expandierendes System der höheren Bildung, also von Hochschulabsolventen welche Berufe brauchten. Unmittelbar nach ihnen wurde dieser Zugang doppelt verschlossen (Ende der Stellenexpansion und jugendliches Alter der neu eingetretenen). Das Wort 'Demokratisierung' musste für mancherlei herhalten und paradoxerweise zumeist für Tendenzen, die eher zur Bürokratisierung als zur Macht des Volkes führten.
'Demokratisierung' bedeutete neue Gremien und viele Sitzungen; die Schaffung von Berufungsinstanzen für jede Entscheidung, die Produktion von Akten, die Ersetzung des persönlichen Urteils durch ausdrückliche Begründungen; das braucht wiederum Formulare und Archive und Verwalter.
"Anhänger der herrschaftsfreien Kommunikation (Habermas?) mögen glauben, dass sie unbezweifelte Autorität durch die Teilnahme aller an allem ersetzen, aber zunächst unterwerfen sie alle der subtilen Folter der Bürokratie" (S. 195).
2. Eine weitere Ursache der Expansion. Beamtenmentalität hat viel zu tun mit Vorlieben der Mehrheitsklasse. Werte der Sicherheit und des geordneten Vorankommens, verlässlicher nicht anstrengender Berufsarbeit, berechenbarer Unpersönlichkeit aller Herrschaftsverhältnisse.
Das wurde zu bevorzugten Erwartungen von Menschen in vielen Lebensbereichen. Das Leben des öffentlichen Dienstes ist nicht aufregend, hat nicht viel Platz für Innovation, aber befriedigt viele Ansprüche (ist eine beachtliche Sozialkonstruktion).
Ein weiteres Beispiel für die Widersprüche der Modernität. Die rationale Ausübung von Herrschaft überwindet den Dilettantismus und die Willkür früherer Herrschaftsformen, aber erklärt auch die Drohung eines Gehäuses der Hörigkeit, in dem alle Initiative und jeder Individualismus erstickt werden.
Der Wohlfahrtsstaat verkörpert die sozialen Bürgerrechte. Um das Ziel eines vollen Bürgerstatus zu erreichen, sind formelle Anrechte, Einkommenstransfers und Programme der Gesundheitsfürsorge, der Bildung usw. erforderlich.
Das Paket, das sich so ergibt, muss bezahlt und verwaltet werden. Es kommt ein Punkt, an dem die Maschinerie des Sozialstaates dessen Absichten konterkariert.
Auf der Ausgabenseite verlangen sozialpolitische Programme beinahe unbegrenzte Verpflichtungen. Es kann nie genug Bildung oder Gesundheitsfürsorge geben.
Auf der Einkommensseite gibt es Probleme.
Seltsame Paradoxe stellen sich ein.
Während die Realeinkommen der Menschen steigen, wachsen auch ihre Transfereinkommen. Sie sind nicht mehr grundlegende Anrechte für alle Bürger, sondern ein Teil des Angebots, das Mitglieder der Mehrheitsklasse erwarten.
Steuern kehren als Anrechte in ihre Taschen zurück. Dann noch die Verwaltungskosten des Prozesses. Es gibt Reibungskosten der Zirkulation von Anrechtsgeldern, und ihr Name ist Bürokratie.
Die Bürokratie ist der größte Widerspruch des Sozialstaates.
Sie bedeutet, dass diejenigen, die für andere sorgen sollten in Verwaltungsarbeiten ertrinken. Sie bedeutet überdies,dass die Empfänger von Leistungen, statt einfache und verständliche Rechte einfordern zu können, sich demütigende Erfahrungen unterwerfen müssen, wenn sie Formulare ausfüllen, ihre Lebensverhältnisse im einzelnen offen legen und Schlange stehen müssen, um in irgendwelchen Büros darüber zu verhandeln, welcher staatliche Topf ('Tropf'?) für sie zuständig ist (S. 197).
Als Resultat einer Bürokratisierung, die zunächst unvermeidlich schien, werden individuelle Probleme verallgemeinert, formalisiert und zu unpersönlichen Fällen in Aktenordnern gemacht.
Das Ergebnis ist unangemessen und führt zu Frustration und Ärger.
Viele Menschen nehmen ihre Anrechte nicht in Anspruch; das Verfahren ist ihnen lästig, sie wissen nichts davon, sie wollen es nicht wissen... Aus einem System des Rechts wird eine Realität des Unrechts.
Johano Strasser plädierte in 'Grenzen des Sozialstaats' für mehr als weniger Wohlfahrt. Er argumentiert dass die Art und Weise wie der Sozialstaat die Probleme definiert, er neue Probleme schafft.
Strasser kann den Glauben der traditionellen Linken an den wohlwollenden Staat nicht ganz abschütteln, aber er sucht nach Möglichkeiten, um die 'Selbstbestimmung und verantwortliche Partizipation' von Menschen zu steigern, und fordert daher mehr Selbsthilfe, die Stärkung von sozialen Netzen, eine neue Solidarität (S. 197).
Das Problem ist klar: Eine der Krisen der siebziger Jahre war die des Staates, des Großstaates. Die Entwicklung der öffentlichen Ausgaben erzählt dieselbe Geschichte. In vielen OECD-Ländern ist der Staatsanteil des BSP in den 70er Jahren auf 50% und mehr angewachsen.
Die Beamtenmentalität fand ihren Grund nicht nur in Beschäftigungsstrukturen, sondern auch in der ökonomischen Rolle des Staates. Keynesianismus, oder was sich so nannte, eroberte die Welt.
Die 70er Jahre waren auch eine Zeit der Demokratie in der Krise. Wenn die Demokratie für die Mehrheitsklasse zu einer Konkurrenz politischer Unternehmer um Stimmen wird und wenn Erfolg in dieser Konkurrenz von der Fähigkeit abhängt, wenigstens einige der versprochenen Güter beizubringen, dann ist ein wachsendes Angebot eine notwendige Bedingung für das Funktionieren des Spiels. Demokratie so als Positivsummenspiel, das in Gefahr gerät, wenn sich Summen nicht mehr addieren lassen (S. 198).
Dahrendorf versucht zu zeigen,dass die ökonomische Theorie der Demokratie auch im günstigsten Falle ernste Mängel hat, vor allem aber in den meisten politischen Kulturen nicht anwendbar ist. Dennoch haben wirtschaftliche Umstände offenbare Auswirkungen auf Fragen der Regierbarkeit und vielleicht der Legitimität.
Seinerzeit war die Inflation das offenkundigste Zeichen der Schwäche von Regierungen. Menschen hörten auf, von Regierungen viel zu erwarten. Sie schraubten ihre Erwartungen zurück. Der Großstaat wurde nicht demontiert sondern von seinen Bürgern verlassen.
Es ist irreführend von Legitimitätskrisen zu sprechen (S. 199, 200).
Jürgen Habermas sprach von der neuen Unübersichtlichkeit, darin ist Dahrendorf ihm gefolgt.
Der Nachtwächterstaat (Ferdinand Lassalle) des 19. Jhs. hat angesichts der Erfordernisse sich ausweitender Bürgerrechte versagt.
Der Staat wurde eher zu einer Fürsorgerin seiner Bürger (Untertanen?).
Michel Crozier spricht von 'Überladung' von Staatsfunktionen.
Ein härteres Weltklima verband sich mit Zweifeln am Wirtschaftswachstum, dem wankenden Sozialstaat und den Widersprüchen der Bürgerteilnahme.
Für manche gab es darauf eine einfache Antwort. Weniger Staat. In der Wirkung aber überlassen sie die herrschenden Mächte sich selbst und das heißt den Interessen und Lebenschancen der Mehrheit.
Unübersichtlichkeit ist das Thema des Tages. Der Großstaat wird uns noch eine Weile begleiten, obwohl die Bürgergesellschaft mit ihren eigenen Zentren menschlicher Tätigkeit an Bedeutung zunehmen dürfte, womit der Staat wieder reduziert würde auf die Aufgabe, den Ton anzugeben und als Schiedsrichter zu wirken.
Nach dem Nachtwächter und der Fürsorgerin ist es nicht ganz einfach einen Namen für den Staat zu finden. Ein Animateur, der Leuten ein gutes Gefühl gibt? Ein Reiseführer?
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