20070508

Unterklasse Unterschicht Ghettoisierung sk-31

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Der amerikanische Aspekt der neuen sozialen Frage.
Auch in den USA Dauerarbeitslosigkeit. Doch sind in den USA Millionen neuer Stellen geschaffen worden und niemand spricht von einer Verknappung der Arbeit oder versteht den Begriff.

Der Grund hiefür liegt in der Flexibilität der Reallöhne nach unten. Amerikanische Reallöhne sind tatsächlich gefallen. Das bedeutet, dass nicht wenige Menschen zwar Arbeit finden aber arm bleiben.

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Hinweis auf Quelle bzw. verwendete Literatur: Der moderne soziale Konflikt von Ralf Dahrendorf, Stuttgart 1992 (1), München 1994, dtv Taschenbuch, Exzerpt: transitenator
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Dauerarmut ist das amerikanische Gegenstück zur europäischen Dauerarbeitslosigkeit.

Das Sinken der Reallöhne begann in den USA in der Mitte der 70er Jahre. Damit Trendbruch. Der Prozentsatz der Menschen unterhalb der offiziellen Armutsgrenze stieg von 11 auf 15 %.
Die Zahlen sind Ergebnis der Tatsache, dass relativ gut bezahlte Stellen abgebaut und neue auf einem niedrigeren Lohnniveau geschaffen worden sind. Dazu gleichzeitiges Ausbleiben von Zusatzleistungen (medizinische Versorgung, Arbeitsplatzsicherheit).

Die Auswirkungen dieses Prozesses sind offenbar deprimierend.

Wenn 'Regularisierung', also die regelmäßige Beschäftigung von Teilzeit- oder Gelegenheitsarbeitern, von Beveridge vor dem Ersten Weltkrieg als Rezept gegen Arbeitslosigkeit empfohlen wurde, dann lässt sich heute eine gegenläufige Entwicklung beobachten.
Stärker als in Europa wirkt sich in den USA die Beschäftigungslage auf den allgemeinen wirtschaftlichen Status von Menschen aus.

Die 'arbeitenden Armen' ('working poor'). Volle Teilnahme am Leben der Gesellschaft bleibt für sie offenkundig prekär; zugleich haben sie ihre Bürgerrechte nicht unwiederbringlich verloren. Ihnen helfen nur Qualifikationen, um sich aus dem Elend herauszuarbeiten.

Dann die noch schlechter Gestellten, die amerikanische 'Ghetto' - Unterklasse. Es gibt keine Industriegesellschaft ohne ein Residuum von Arbeitsunfähigen, Arbeitsunwilligen und Herumtreibern. Doch sind die Clochards von Paris, etc. keine Unterklasse.

Damit eine Unterklasse entsteht, muss es systematische Prozesse ihrer Rekrutierung, ihrer Abgrenzung und der Prägung ihres Verhaltens geben.

Es hat den Anschein, als ob diese in amerikanischen Großstädten existieren.

Die Merkmale: "Minderheitsgruppen, die in den Elendsquartieren unserer Großstädte leben, gekennzeichnet durch eine schwache Bindung an den Arbeitsmarkt, durch Drogen- und Alkoholmissbrauch, uneheliche Geburten, langfristige Abhängigkeit von Sozialhilfe und, zumindest unter Männern eine Tendenz zu kriminellem Verhalten" (Mary Jo Bane u. Paul Jargowsky).

Es ist die Rede von einer sozialen Kategorie, in der sozial pathologische Merkmale sich so sehr häufen, dass ein Dauerzustand der Entfremdung entsteht.
Seine Merkmale sind fehlende Qualifikationen, miserable Wohnverhältnisse, Abhängigkeit von staatlicher Hilfe. Viele gehören ethnischen Minderheiten an, unvollständige Familien, Neigung zu abweichendem Verhalten.
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Die Größe der Unterklasse?
USA: 8,7% der Stadtbevölkerung, ca. 4 Millionen, zwischen 1 u. 5% der Gesamtbevölkerung.
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Solche Schlüsse bleiben unbefriedigend. Wenn der Begriff 'Unterklasse' einen Sinn haben soll, dann muss er eine identifizierbare Kategorie sozialer Stellung und sozialen Verhaltens beschreiben.

Der meist zitierte Soziologe zu dieser Frage ist William Julius Wilson. Er ist der eigentliche Erfinder des wissenschaftlichen Begriffes der Unterklasse, obwohl er es vorzieht von 'wahrhaft Benachteiligten' zu sprechen und soziale Faktoren höher einzuschätzen als ethnische oder rassische. Seine ursprüngliche These war eindringlich.

Viele Mitglieder von Minderheiten sind aus den amerikanischen Innenstädten abgewandert (als Folge teils der Bürgerrechtsbewegung und teils relativ günstiger ökonomischer Bedingungen).

Sie beseitigten damit die Brücke zwischen Einschluss und Ausschluss. (Anmerkung: 'transition'). Mit ihnen verschwanden die 'Rollenmodelle' für die weniger Qualifizierten und Motivierten. Die Zurückgebliebenen fanden sich in einem Zustand 'sozialer Isolierung'.

Alsbald setzte ein 'Konzentrationseffekt' ein, der den Grenzzaun zwischen 'Ghetto' und dem Rest schwerer überwindbar machte. Die Unterklasse fand sich sozial abgekoppelt und in einem zunehmend unausweichlichen Zyklus der Benachteiligung.


Europa: Selbst in England ist dieser Abkoppelungsprozess viel weniger weit fortgeschritten. In den benachteiligten Vierteln der inneren Städte gibt es noch viel Energie, Qualifikation und Motivation und das Fehlen realistischer Möglichkeiten stellt ein größeres Problem dar, als der 'Konzentrationseffekt' der Benachteiligung.


Im übrigen Europa ist die physische Konzentration, die zur Definition der Unterklasse gehört, eher selten und jedenfalls weit weniger ausgeprägt als in den hundert größten Städten Amerikas. Selbst die Dauerarbeitslosen sind häufig verstreut, wenn nicht vereinzelt, was ihre Lebenslage nicht erleichtert, es aber erschwert sie als eine Klasse zu beschreiben.

Die Begriffsfrage stellt sich auch für die amerikanische Unterklasse. Richard Nathan versucht terminologische Genauigkeit.

Er sei zu dem Schluss gekommen, "dass das Wort Unterklasse eine reale und neue Soziallage beschreibt, mit der wir fertig werden müssen. Dies ist eine Lage, die mit dem Begriff Klasse zutreffend beschrieben wird".

Allem Anschein nach ist die als Unterklasse beschriebene Sozialkategorie vom Rest durch Grenzen getrennt, die man Anrechtsgrenzen nennen muss.

Offizielle, normale staatliche Maßnahmen erreichen diese Menschen nicht. Wenn die gesamtwirtschaftliche Konjunktur aufwärts führt, bleiben sie zurück. Ihre Kinder besuchen die Schulen nicht, Arbeitsplätze werden nicht akzeptiert.

Manche zögern, da von Anrechtsschranken zu sprechen; die offizielle Gesellschaft hat den Armen noch stets ihre Lebenslage zum Vorwurf gemacht.

In den USA werden Lösungen ausprobiert. Betonung der, und Lockung, Drängung in die Arbeitswelt. Aber Wilson sagt uns, dass alle Formen der Verbindung von Sozialhilfe und Arbeit bei dieser Gruppe versagen; der 'Konzentrationseffekt' ist zu stark. Er muss zuerst gebrochen werden.

Dahrendorfs Idee einer CHARISMA GmbH., ein Unternehmen, dass einzelne ermutigt, die in der Lage sind, auf örtlicher Ebene andere zu inspirieren. Sie müssten die Fähigkeit haben, diejenigen zu erreichen und einzubeziehen, die für die meisten unzugänglich sind (S. 226).

Weder die neue Arbeitslosigkeit noch die neue Armut wird durch Wirtschaftswachstum beseitigt werden.

Zusätzliches und im weitesten Sinn politisches Handeln ist nötig- ein sicheres Anzeichen dafür, dass wir es mit einem Anrechtsproblem und nicht mit einem Angebotsproblem zu tun haben.

Es ist keineswegs ausgemacht, dass die Mehrheitsklasse ein Interesse daran hat, den Zirkel der Benachteiligung derer zu brechen, die in eine Unterklassenlage abgesunken sind.

Im Gegenteil könnte es Interesse der Mehrheit sein (vor allem in Zeiten der ökonomischen Unsicherheit), einige aus ihrem Umkreis heraus zu definieren um die Stellung derer drinnen zu schützen.

Die Institutionen und Organisationen der Mehrheit helfen der Unterklasse jedenfalls wenig. Bildungseinrichtungen sind nützlich für alle, die sie erreichen. Nachgewiesene Qualifikationen sind die wirksamste Eintrittskarte in die moderne, durch Hochtechnologie bestimmte Wirtschaft, aber diejenigen, denen der Zugang oder die Motivation oder das Sitzfleisch fehlt, bleiben ganz und gar draußen.

Tatsächlich tun die Gewerkschaften wenig für die Unterklasse.

Niemand mag Armut. Wenn gewählt wird, dann haben solche Parteien eine bessere Gewinnchance, die den Beschäftigten ein paar Mark mehr versprechen, als diejenigen die Opfer oder Umverteilung fordern, um den Ausgeschlossenen zu helfen (S. 227).

Die Mehrheitsklasse schützt ihre Interessen so wie andere herrschende Klassen das vor ihr getan haben. Der Unterschied liegt in der Dimension. In gewisser Weise ist das Gegenteil dessen eingetreten, was Marx prophezeit hat.

Die überwältigende Mehrheit der Menschen (die Mehrheitsklasse) hat ohne politische Revolution eine durchaus erträgliche Existenz gefunden. Aber sie sind keineswegs sicher, dass die guten Zeiten für immer andauern werden.

Es werden Grenzen gezogen, die einige draußen in der Kälte lassen.

Die fehlende Phantasie einer Klasse, die in der Angebotswelt lebt und daher die Anrechtsforderungen anderer nicht erkennt, verbindet sich mit dem Interesse an der Sicherung der eigenen Position.

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